Menschliche Gleichgewichte im Objekt - Spezifika Steinerscher Gestaltung
Menschliche Gleichgewichte im Objekt - Spezifika Steinerscher Gestaltung | Vortrag am 31.Mai 2019 zur Tagung "ANGEWANDTE KÜNSTE - Im Mittelpunkt der Mensch"
Liebe Freunde, danke sehr, dass ich hier zu Ihnen sprechen darf. Jetzt freue ich mich auf Ihr Zuhören!
Mein Thema sind die Spezifika Steinerscher Gestaltung als objektimmanente menschliche Gleichgewichte. So werden wir vor allem Steiners Werke in den Blick nehmen. Werke anderer sind ausdrücklich nur in thematischer Hinsicht betrachtet, sie mögen an anderer Stelle eigenen Platz haben.
Wie ich zum Thema kam?
1. Exkursion zum Goetheanum
Während meines Architekturstudiums an der Alanus-Hochschule der musischen und bildenden Künste gab es etwa 1986 eine Exkursion zum Goetheanum mit unserm verehrten Dozenten Peter Ferger. Beim Umgang um das gesamte Gebäude hatte ich das Erlebnis, dem Menschheitsrepräsentanten zu begegnen. Welch eine Umstülpung: Das bildhaft anschaubare innerste Ziel des Weges ins erste Goetheanum hinein jetzt ganz außen willentlich erlaufbar. Vor allem in der Differenzierung im Vorne-Hinten: ganz polar der abgeschlossene Kubus im Osten zum Westen mit höchstgradiger Reliefenergie offen sensibel weit schauend und lauschend. Und wie das Polare nicht etwa kontinuierlich ineinander übergeht, sondern wechselweise je anwesend ist in den Fensterformen, auch wie es im Querflügel ganz eigen erscheint - wunderbar!
Nicht begegnet Steiner mit luziferischer Gestaltung allopathisch einer ahrimanischen Weltarchitektur des Industriezeitalters, hat auch nicht deren Qualität potenziert, um homöopathisch eigene Abwehrkräfte hervorzurufen.
Dies sehr starke Erlebnis führte mich dennoch nicht zur Erkenntnis einer Konzeption, die man teilen und fortsetzen könnte. Dass man polare Qualitäten differenzieren muss, um dynamisch Gleichgewicht schaffen zu können.
2. Plastisches Wirklichkeitserlebnis Alanus-Türen – konkav / konvex
Dass Kunst einen Bezug zur Wahrheit hat, erfuhr ich mit vielen zusammen, spät erst wurde mir klar, was da war:
(PZ, SN, 2/2016)
Mein erstes plastisches Wirklichkeitserlebnis von "richtig oder falsch" erinnere ich aus Alanus-Zeiten (etwa 1985): An eine Tür vom Innenhof zum Musikertrakt stieß ich immer wieder an, warum konnte ich den Öffnungssinn nicht leicht lernen? Dann merkte ich, dass vielen es so ging. Das gab Rätsel auf, bis deutlich wurde, was da plastisch "falsch" ist. ("Falsch" meint nicht etwa verboten oder verdammenswürdig, um hier vorwegzunehmen, was unten ausgeführt ist. Z.B. mag es gesellschaftspolitisch wie individuell durchaus sinnvoll sein, zu provozieren, anstoßen zu lassen.)
Hier frisch von vor Ort bestätigt:
Gesendet: Donnerstag, 28. Januar 2016 20:17
Hallo Peter, jetzt war ich da, am Johannishof, das erste Mal nach längerer Zeit, das war interessant und bewegend in verschiedener Hinsicht. Wann warst Du zuletzt da? Man sieht den Johannishof wirklich kaum noch, immerhin ist er da.
Die Türen, an die Du Dich nach meiner Ansicht erinnerst, sind die auf den Fotos dargestellten, die Form ist bei beiden gleich, Material vielleicht, Farbton und Helligkeit sicher sind verschieden. Beide sind zweiflügelig nach außen öffnend, der DIN-rechte Flügel ist jeweils der Gangflügel, natürlich so gut wie immer ausschließlich zu öffnen und in Benutzung, man sieht jeweils innen oben am Griff die Abnutzung.
Das Holz in der Mitte, wo beide Flügel zusammen kommen, ist vollplastisch ausgearbeitet, da vor Allem außen nichts anderes in Auge oder Hand springt, kein Stab, kein Rohr, kein Knopf, keine vorschwebende Platte, muss hier der Packan sein. Nun ist die Ansicht, die Silhouette beider Flügel voll mittelachsensymmetrisch, auf den vier Bildern sieht man auch nicht, wohin man greifen, schieben, drücken soll, wenn der Fachblick nicht den Obentürschließer ortet.
Tritt man näher, wird der Unterschied plastisch deutlich, wirklich, wirksam, weit mehr als auf den Fotos zu sehen: eine Seite ist konkav gewölbt nach innen, vom Menschen weg, die andere konvex, nach außen, ihm entgegen. Allerdings ist das an einem Flügel immer innen und außen gleich: Obwohl man den Gangflügel von außen ziehen muss, von innen drücken, ist er immer der konkave.
Von innen drückt man in die hohle Wölbung hinein, mit Hand oder Hüfte, nach meiner Meinung kein Problem, ganz organisch. Aber von außen will man an der linken konvexen Seite ziehen, die sich einem schon entgegenwölbt, nicht hinter die Kante der konkaven rechten Seite fassen, die vor einem flieht, oder man versucht dort zu drücken, dann am rechten Flügel aber in falsche Richtung, oder beides hintereinander: erst links ziehen, dann rechts drücken, beides hilft nicht, dann vielleicht links drücken? Auch nicht! Ach, rechts ziehen geht?!
Als ich die Fotos machte, kam ein Dozent, der nicht oft da war und mir genau dies als seine frische Erfahrung bestätigte.
Beste Grüße von Harry
Später fand ich eine erhellende Äußerung Steiners zur Frage der Wahrheit, welche große Wertschätzung von beidem - Wahrheit und Künstlerischem - zeigt, gefunden in den Beiträgen 37/38 aus 1972, von Hella Wiesberger:
"In bezug auf Rudolf Steiners Stellung und Beurteilung der künstlerischen Ausführung ist außerordentlich aufschlußreich, was er über die Münchner Siegel schreibt: «Jenes Gespräch im Münchner Kongreßsaale, wo Sie die Siegel unkünstlerisch nannten und ich erwiderte «aber richtig», haben Sie nämlich mißverstanden. Ich war mit Ihnen ganz einverstanden, und hätte sehr, sehr gerne diese Dinge künstlerisch gehabt. Doch muß der Okkultist realistisch, nicht chimärisch denken und so muß er dasjenige nehmen, was zu haben ist. «Aber richtig» sagt daher auch alles. Das ist es nämlich, worauf es ankommt, daß gegenwärtig kein Künstler das dem wirklichen Leben nachschaffende Vermögen hat. Und so hat man nur die Wahl: entweder die formell-abstrakte Andeutung inneren Lebens und Gehaltes bei äußerlich unkünstlerischer Formgebung; oder die in sich toten Formen und Schemen, die heute vielfach künstlerisch genannt werden, und die auf den Kenner wirklichen Lebens ungefähr wirken wie Leichname, die Leben vortäuschen sollen.» (Briefentwurf an Unbekannt vom 12. April 1909)"
3. Frage nach Architekturtherapie
Anlässlich einer Entwurfsaufgabe für die Husemannklinik wurde klar die Unmöglichkeit, "allopathisch" per Ausgleich oder auch homöopathisch zu wirken, die Notwendigkeit, stattdessen Aufrichtungshilfen fürs Ich zu geben. Denn Architektur ist von Dauer, wird von vielen genutzt - wer wollte immerzu umbauen?;-) - (Mit Farben, Ton und Wort ist ganz anders individuelles Helfen möglich.)
Mit dieser Frage war eigentlich das Thema gestellt, bewusst geworden!
4. Kalendererlebnis bei Peter Fergers Weihnachtsvortrag – Osterfestlegung und Weihnachtsfeste, beide würdigen Mond & Sonne und sind frei davon!
Bei diesem Vortrag, 1985 oder 86 muss es gewesen sein, begriff ich, dass die Zeit außerhalb der beiden Weihnachtsfeste, die Zeit von Dreikönig und Epiphanie am 6. Januar bis zur Hirtenweihnacht am 25. Dezember 12 echte Mondmonate umfasst. Ich erlebte die Form der Feste als christlich im Sinne der Überwindung von Polaritäten.
Für die Zeitfassung sind Sonne und Mond die Urpolarität, es gab existentielle Auseinandersetzung um die Frage: Mond - oder Sonnenkalender?! Dabei muss man die Namen nicht nehmen im Sinn der planetarischen Weltentwicklung, sie sind diesfalls Bilder für zwei polare Arten, Zeit zu erleben - als laufende Schrittfolge einerseits oder teilende Gliederung größerer Einheiten andererseits: "Wenn Aufsätze geschrieben werden gibt es immer Schüler, die loslegen, schreiben, Schritt um Schritt, rollend fast, schwer ist ihnen zu finden der Schluss. Punkt. Andere beginnen erst, wenn sie quasi die Quintessenz haben, aus dem Überblick sozusagen mit dem Inhaltsverzeichnis, schwer kommen sie in Fluss.
Wenn die Tageszeit genannt werden soll, empfinden manche die vollen Stunden fast räumlich als Gliederungspunkte des Ganzen und wissen sich eine Spanne davor oder danach: Viertel vor oder nach, Fünf nach halb... - zählen andere die abgeschrittenen Viertel; viertel, halb, dreiviertel, um. Vier. Und so weiter."
Die Ordnung der drei Weihnächte ist ein Angebot, das Jahr zu gliedern in eine Doppelzwölf von 12 heiligen Nächten einerseits und 12 echten Monaten andererseits. Hier folgen vier Bilder ganzer Jahre, die Tage je auf Linien gleicher Mondphase aufgefädelt: jüdisch, muslimisch, gregorianisch - und zuletzt das gregorianische Jahr solcherart in doppelter 12 neu sortiert:
Zwar thematisiert Rudolf Steiners Kalenderimpuls nicht diese weihnachtliche Ordnung mit echten Monaten. Islam und Judentum waren nicht im Fokus, auch China mit seinen ebenfalls synodischen Monaten nicht. Die Tatsache, dass mit diesen Kulturen weitaus die meisten Menschen dieser Erde im Realbezug zu echten Monaten die Welt anschauen, hatte 1912 viel weniger Gewicht als heute. Steiners Kalender, einziges Produkt der "Gesellschaft für theosophische Art & Kunst", entstand in einer Zeit, in der eine Synthese mit buddhistischer und hinduistischer Weltanschauung Thema war - In einem Vortrag "ZUR SYNTHESE DER WELTANSCHAUUNGEN" (GA 143) nannte er am 16.Mai 1912 in München den Kalender etwas "was für jeden benutzbar ist, auf daß er sich durch die Benützung wiederum einen Schritt näher in die Bahn des Spirituellen hineinbegeben kann, als das durch andere Mittel erreicht werden kann" - das ist genau angewandte Kunst!
Zwar stammt die Osterfestlegung als andere Überwindung der Polarität Sonne/Mond aus älterer Weisheit, zwar gab es den Kalenderbeginn mit Ostern, den sogenannten "Paschalstil" im Mittelalter schon. Dass und wie Steiner ihn zur Grundlage seines Kalenders macht, zeigt seine Gleichgewichts-Intention. Als Wochenkalender zunächst frei von Sonnen- und Mondjahr betonte er neu die Mondseite: mit doppelten Blättern zu Monatswechseln und täglichen Bildern des Mondortes. Eine neue Bildhaftigkeit und sinnlicher Realbezug durch Wahl der siderischen Himmelsorte gehören ebenfalls dazu.
5. Aufbaustudium Bremen bei Wolfgang Zimmer
Hier wurde ich geweckt für die Differenzierung! Untig – obig, Fuß- – Kopfwärts… - Im Studium hatten wir durchaus nach Mittequalitäten gesucht, jetzt erkannte ich den Sinn der Polarisierung: Vorderseite und Rückseite so verschieden zu gestalten, macht den Spannungsbogen erst möglich - wie z.B. beim zweiten Goetheanum getan! So lernte ich, z.B. eine Raumecke verschieden zu brechen, unten geometrisch sockelig, oben wölbend rund, dazwischen dynamisch spiralig verbunden.
Hirtlich & königlich zugleich wollten wir gestalten – hier fand ich wieder den Bezug zum Kalendererlebnis! (Der ehemalige Kommunist hielt wenig von „Rummstehkunst“ für Kaminsimse reicher Leute;-) Hier wurde ich wach für die soziale Relation - jeder Kursteilnehmer wollte das Beste für sein Kind, den ankommenden König, zugleich sollte jede Wiege brüderlich nahbar sein für jeden, baubar vom Laien in angemessener Zeit. Nichts fehle dem König, nichts sei dem Hirten zuviel!
Mittel und Methoden zu sehen, lernte ich in meinem Aufbaustudium bei Wolfgang Zimmer in Bremen. Die gegliederte Bauweise zerlegt den Bauprozess in viele Einzelfragen ans künstlerische Gefühl. Die Antworten aller kursteilnehmenden Eltern, z. B. zur Frage der Schräge von Wiegenseiten, ist erstaunlich objektiv einfach. Beim gemeinsamen parallelen Aufbau von Wiege und Sarg vorhin im Workshop hatten wir genau dieses Erlebnis!
Sinnenfällig, nicht sinnwidrig, der Tür insgesamt und den Drückern innen eine konkave Geste als Einladung zum Aufschieben zu geben, außen konvex ihre Gegenbewegung anzukündigen, das wurde mir zur selbstverständlichen Empfindung - ausgeführt ganz verschieden je nach Kontext.
Hedwig Hauck hat dankenswerterweise viele Hinweise von Rudolf Steiner zusammengestellt in ihrem Werk "Kunst und Handarbeit: Anregungen von Rudolf Steiner für Pädagogen und Künstler (Menschenkunde und Erziehung)". Diese Sammlung lehrte uns viel zur Differenzierung nach den Raumesrichtungen, aus ihm stammen die Zeichnungen der nächsten Galeriebilder. Das vierte Bild zeigt die gestern von Heide Nixdorf angesprochene Oben-Mitte-Unten-Differenzierung von Kleidersäumen. Ganz aktuell kann man hier im Goetheanum manche Originale in der laufenden Ausstellung "ErziehungsKunst – Künstlerische Elemente in Rudolf Steiners Pädagogik" betrachten!
Man beachte auch im ersten Bild die ganz gewöhnlich gelassene Form des Kopfkissenbezugs neben Dekor und Naht, zwei je ganz eigen gegriffenen Gestaltungsthemen:
6. Levico-Wasser
Das lernte ich bei einer Kur in Roncegno kennen und schätzen, konnte lesen bei Stefano Gasperi:
„So setzt sich der Patient sowohl bei der Anwendung mit dem Levico-Wasser wie auch bei der Behandlung mit dem Cardiodoron® nicht mit einem Krankheitswesen auseinander (wie z.B. im Sinne des Vergiftungsbildes der homöopathischen Arzneilehre), vielmehr tritt er in der Behandlung einem Urbild des gesunden Menschen gegenüber. Aus diesem Grunde kann man das Levico-Wasser berechtigterweise zu den typischen Heilmitteln zählen.
Rudolf Steiner hat uns diese Medikamente gegeben, wo aus den polaren Pflanzen oder Substanzen durch einen künstlerischen pharmazeutischen Prozess eine neue höhere harmonische Einheit errungen werden kann. Diese Medikamente sollen die Menschen in der heutigen Bewusstseinssituation und in der Zukunft begleiten.
In der Gegenwart treten zunehmend Phänomene von Spaltungen auf. In allen Lebensbereichen beobachten wir trennende, vereinzelnde, in die Einseitigkeit sich verlierende Tendenzen; Fragmentierungen zwischen den Gesellschaftsgruppen, Befremdung und Isolierung in den zwischenmenschlichen Beziehungen, Entfremdung von der Welt und von sich selbst, Spaltung der Persönlichkeit.
Das Lebenswerk Rudolf Steiners ist in allen Lebensfeldern dem Entwurf eines Integrationsprinzips als Gegenprozess zu diesen trennenden Tendenzen gewidmet, wo die zentrale Stellung des Menschen als eine equilibrierte Dreiheit im Mittelpunkt steht.“
Das scheint mir ein wunderbares Beispiel. Mit künstlerischer Phantasie werden solche Heilmittel kreiert, sind da und in ihrer Wirkweise klar beschreibbar. Der Arzt ist als Heilkünstler frei, aus individueller Intuition zu behandeln: per OP, allopathisch oder homöopathisch, oder eben auch mit diesen anthroposophischen Medikamenten, mit allen verfügbaren Mitteln.
Das ist mein Ideal des anwendenden Künstlers: einerseits phantasievoll neue Mittel und Methoden erfindend, zur Erweiterung des eigenen Werkzeugkoffers wie zur Erkenntnis alles Gewordenen, dann bei völligem "Vergessen" intuitiv schaffend das im gegeben Kontext passende Werk.
7. Türklinke
Sie wissen, eine Türklinke schuf Steiner einmal nur, für das Glashaus, mit besonderer Geste, spezieller Form für einen bestimmten Ort, nicht etwa alle bekamen Gestalt und solch neue Gestik.
In der Formung der Geste erlebe ich eingebaut ein menschliches Gleichgewicht, wie es sich ausdrückt in der einfachsten Sprechform menschlichen Anstands: mit dem „Entschuldigen Sie…“ vor der Frage nach Uhrzeit oder Wegbeschreibung nimmt man sich zurück, bevor man dann Platz greift, so wird der Überfall freundlich – ein Gleichgewicht zwischen Vor und Zurück wird geschaffen, die Anwesenheit des je Polaren ist erlebbar als menschliche Eigenschaft. Diese Klinkengeste finde ich genial, warte und freue mich auf den Tag, an dem im Auftrag des Goetheanum oder aus freier Inspiration ein Mechaniker diese industriefähig macht - wie schön wäre es, wenn man in jedem Baumarkt auch Klinkengarnituren solcher Gestik fände, in allen Formen und Farben! Wie oft blieb mir in Kindergärten nur die Notlösung der senkrecht gestellten Klinken zur Vermeidung des "mit-der-Tür-ins-Haus-Fallens", welches die gewöhnliche Klinkenmechanik alle Kinder lehrt. Friedenstiftend sind die weltüblichen Klinken nicht!
Sie haben alle erfahren, dass viele Türklinken und Drücker viel zu wünschen übriglassen, auch hier beim Goetheanum.
8. Erkenntnis des Schwingungszustands - darauf kommt es an!
Und schließlich geht es überall um Gleichgewicht, ist der Gleichgewichtblick der Schlüssel: "...so wird sich ein Höchstes an Weltgeheimnissen der Menschheit der Zukunft enthüllen müssen, indem sie das Erstarrende, das Sichverflüchtigende, das Davonlaufen, das Zurückschieben, das Gradlinige, das Krummlinige, das Gesetzmäßiges-Liebende, das Gesetzmäßiges-Hassende usw. konkret aufzufassen in der Lage ist. Überall im Leben den Schwingungszustand erkennen, das ist es, worauf es ankommt." (Aus: "Die Polarität von Dauer und Entwickelung im Menschenleben" GA 184, 8. Vortrag vom 21. September 1918: "Der Dornacher Bau und das Geheimnis der Gleichgewichtslage")
Rudolf Steiners Gestaltungsimpulse durchziehen das ganze dingliche Alltagsleben. Sie finden sich in seiner Architektur wie in seinen Möbeln, in Kleidungsstücken und Kopfkissenbezügen, in Plakaten und Kleinodien.
Mal ergreifen sie die Form, mal das Dekor, mal die Konstruktion. Mit den dinglichen Gegenständen zugleich werden ihre Umräume und die Gebärden der Nutzer geformt.
- Welche sind heute sinnvoll umzusetzen? Wie, wann, wo und in welcher Art?
- Welche Designer verwirklichen welche Ideen Steiners neu?
- Welche neuen Ideen erscheinen uns als ergänzende Erweiterung von bekannten Gestaltungsimpulsen, als inspiriert von Steiner?
Diese Fragen sind aktuell! Schon der Jugendstil, erst recht dann Werkbund wie Bauhaus, die ganze Moderne wollte die zunehmende Trennung von fühlloser Alltags(un)gestaltung und Atelierkunst überwinden, ein einziger Kunstsinn sollte alles durchziehen. Zwar hat die Documenta nach der Zeit des Nationalsozialismus den Atelierkunstteil der Moderne rehabilitiert, nicht aber ihren Grundansatz zur Gesamtweltgestaltung - darum reden wir immer noch fast dualistisch von Kunst versus angewandter Kunst.
Steiners künstlerisches Werk ist vor allem Gestaltung praktischer Wirklichkeit, Antwort auf Fragen konkreter Menschen, kaum Atelierprodukt für Unbestimmt.
Heide Nixdorf: "Arbeit aus Hinsicht und Rücksicht nennt Steiner das Konkret-Künstlerische oder das Kunstgewerbliche." (Stuttgart 23.8.1919 GA 294) "Sie führe zu einer „Wirklichkeit der künstlerischen Scheinwelt“, zu einer andersartigen "Schönheit", für die ein lebensvoller Sinn grundlegend entwickelt werden kann" (Dornach 5.1.1922 GA 303).
Solch lebensvollen Sinn grundlegend zu entwickeln, ihn erst auszubilden, gilt es folgerichtig. Im Workshop von Reinhold Fäth und Daniel Bernhardt zur Möbelkunst geht es u.a. um Stühle, die folgenden Zitate mögen überleiten zum nächsten Vortrag.:
"Wir haben es doch tatsächlich im Laufe des 19. Jahrhunderts dahin gebracht, dass wir unsere Möbel für das Auge machen, z.B. einen Stuhl für das Auge machen, während er den Charakter an sich tragen sollte, dass man ihn fühlt, wenn man darauf sitzt. Darnach soll er gestaltet sein. Man soll den Stuhl erfühlen, er soll nicht bloß schön sein, er soll den Charakter an sich tragen, dass ein Mensch darauf sitzt. Das ganze Zusammenwachsen des Gefühlssinnes mit dem Stuhl und sogar des geformten Gefühlssinnes - durch die Art, wie Armlehnen am Stuhle sind und so weiter, indem der Mensch seine Stütze an dem Stuhl sucht -, sollte an dem Stuhl zum Ausdruck kommen." Rudolf Steiner, Erziehungskunst. Methodisch-Didaktisches (Stuttgart 23.8.1919 GA 294)
"Man sollte denken, die Baukunst als schöne Kunst arbeite allein fürs Auge; allein sie soll vorzüglich, und worauf man am wenigsten Acht hat, für den Sinn der mechanischen Bewegung des menschlichen Körpers arbeiten; wir fühlen eine angenehme Empfindung, wenn wir uns im Tanze nach gewissen Gesetzen bewegen; eine ähnliche Empfindung sollten wir bei jemandem erregen können, den wir mit verbundenen Augen durch ein wohlgebautes Haus hindurch führen." Goethe (Baukunst 1795)
Dank menschlicher Gleichgewichte in den Objekten werden diese selbst menschlich, tragen bei zur Menschwerdung allen Seins - "Und der Bau wird Mensch", Kleid, Brosche, Möbel und Teller auch! Das lässt sich erfahren je an der Gleichgewichtslage in jedes Sinnes Spektrum, wenn neu mit allen Sinnen diese Objekte man wahrnimmt.
Nicht abstrakte Gleichgewichte zwischen irgendwas sind gefragt, sondern eben spezifisch menschliche: Zwischen welche polaren Qualitäten lehrt des Menschen Gestalt zu spannen das Vorne-Hinten? Zwischen welch andere das Oben-Unten, das Kopf-Fußwärts, Innen-Außen, Links-Rechts? Was ist die Urpolarität im Zeiterleben?
Solches lässt sich je grundsätzlich erforschen und erkennen, darüber lässt sich Wissen schaffen, dieses benennen.
Gestalter können sich die Aufgabe stellen oder einen Auftrag bekommen, für eine konkrete Situation eine Lösung zu finden, an der passenden "Stelle" (=Konstruktion/Form/Dekor) und mit je dem sozialem Kontext angemessenen Aufwand menschliche Gleichgewichte zu spannen...
Danke, dies wollte ich Ihnen mitteilen.
Leitlinien, Kriterien, Stilelemente...
Eine Sammlung zum Thema, einigermaßen thematisch sortiert, teils auch chronologisch.
Bitte die "Akkordeons" je auf- oder zuklappen.
(PZ, SN, 2/2016)
Mein erstes plastisches Wirklichkeitserlebnis von "richtig oder falsch" erinnere ich aus Alanus-Zeiten (etwa 1985): An eine Tür vom Innenhof zum Musikertrakt stieß ich immer wieder an, warum konnte ich den Öffnungssinn nicht leicht lernen? Dann merkte ich, dass vielen es so ging. Das gab Rätsel auf, bis deutlich wurde, was da plastisch "falsch" ist. ("Falsch" meint nicht etwa verboten oder verdammenswürdig, um hier vorwegzunehmen, was unten ausgeführt ist. Z.B. mag es gesellschaftspolitisch wie individuell durchaus sinnvoll sein, zu provozieren, anstoßen zu lassen.)
Hier frisch von vor Ort bestätigt:
Gesendet: Donnerstag, 28. Januar 2016 20:17
Hallo Peter, jetzt war ich da, am Johannishof, das erste Mal nach längerer Zeit, das war interessant und bewegend in verschiedener Hinsicht. Wann warst Du zuletzt da? Man sieht den Johannishof wirklich kaum noch, immerhin ist er da.
Die Türen, an die Du Dich nach meiner Ansicht erinnerst, sind die auf den Fotos dargestellten, die Form ist bei beiden gleich, Material vielleicht, Farbton und Helligkeit sicher sind verschieden. Beide sind zweiflügelig nach außen öffnend, der DIN-rechte Flügel ist jeweils der Gangflügel, natürlich so gut wie immer ausschließlich zu öffnen und in Benutzung, man sieht jeweils innen oben am Griff die Abnutzung.
Das Holz in der Mitte, wo beide Flügel zusammen kommen, ist vollplastisch ausgearbeitet, da vor Allem außen nichts anderes in Auge oder Hand springt, kein Stab, kein Rohr, kein Knopf, keine vorschwebende Platte, muss hier der Packan sein. Nun ist die Ansicht, die Silhouette beider Flügel voll mittelachsensymmetrisch, auf den vier Bildern sieht man auch nicht, wohin man greifen, schieben, drücken soll, wenn der Fachblick nicht den Obentürschließer ortet.
Tritt man näher, wird der Unterschied plastisch deutlich, wirklich, wirksam, weit mehr als auf den Fotos zu sehen: eine Seite ist konkav gewölbt nach innen, vom Menschen weg, die andere konvex, nach außen, ihm entgegen. Allerdings ist das an einem Flügel immer innen und außen gleich: Obwohl man den Gangflügel von außen ziehen muss, von innen drücken, ist er immer der konkave.
Von innen drückt man in die hohle Wölbung hinein, mit Hand oder Hüfte, nach meiner Meinung kein Problem, ganz organisch. Aber von außen will man an der linken konvexen Seite ziehen, die sich einem schon entgegenwölbt, nicht hinter die Kante der konkaven rechten Seite fassen, die vor einem flieht, oder man versucht dort zu drücken, dann am rechten Flügel aber in falsche Richtung, oder beides hintereinander: erst links ziehen, dann rechts drücken, beides hilft nicht, dann vielleicht links drücken? Auch nicht! Ach, rechts ziehen geht?!
Als ich die Fotos machte, kam ein Dozent, der nicht oft da war und mir genau dies als seine frische Erfahrung bestätigte.
Beste Grüße von Harry
(PZ, SN, 12/2018)
Rudolf Steiner hatte keine Kunstausbildung, war lange Zeit gar nicht als Künstler aktiv (gewiss ist die Frage interessant, inwiefern seine Schriften Gedankenkunstwerk, seine Vorträge Rednerkunst sind!). Malerische oder plastische Jugendwerke sind (mir) nicht bekannt.
Zuerst mit der Gestaltung des Münchner Festsaals 1907 und dann mit den Mysteriendramen 1910-13 beginnt deutlich eine später immer stärkere Hinwendung zum Künstlerischen. Von der Wissenschaft aus hin zu Religion und Kunst bis zur Gesellschaftstat geht Steiners Gang. Vom "Richtigen" hin zum "Schönen" und "Guten". Das sei bedacht.
Eine frühe Äußerung, gefunden in den Beiträgen 37/38 aus 1972, von Hella Wiesberger:
"In bezug auf Rudolf Steiners Stellung und Beurteilung der künstlerischen Ausführung ist außerordentlich aufschlußreich, was er über die Münchner Siegel schreibt: «Jenes Gespräch im Münchner Kongreßsaale, wo Sie die Siegel unkünstlerisch nannten und ich erwiderte «aber richtig», haben Sie nämlich mißverstanden. Ich war mit Ihnen ganz einverstanden, und hätte sehr, sehr gerne diese Dinge künstlerisch gehabt. Doch muß der Okkultist realistisch, nicht chimärisch denken und so muß er dasjenige nehmen, was zu haben ist. «Aber richtig» sagt daher auch alles. Das ist es nämlich, worauf es ankommt, daß gegenwärtig kein Künstler das dem wirklichen Leben nachschaffende Vermögen hat. Und so hat man nur die Wahl: entweder die formell-abstrakte Andeutung inneren Lebens und Gehaltes bei äußerlich unkünstlerischer Formgebung; oder die in sich toten Formen und Schemen, die heute vielfach künstlerisch genannt werden, und die auf den Kenner wirklichen Lebens ungefähr wirken wie Leichname, die Leben vortäuschen sollen.» (Briefentwurf an Unbekannt vom 12. April 1909)"
Was ist Kunst? - Steiners Antwort auf diese Frage ist für sein eigenes Künstlertum wichtig.
Aus der Sinneslehre hat er zuerst seine Anthroposophie entwickelt (1910 Anthroposophie - ein Fragment), einen lebensvollen Sinn grundlegend zu entwickeln, ihn erst auszubilden, gilt es folgerichtig:
"Wir haben es doch tatsächlich im Laufe des 19. Jahrhunderts dahin gebracht, dass wir unsere Möbel für das Auge machen, z.B. einen Stuhl für das Auge machen, während er den Charakter an sich tragen sollte, dass man ihn fühlt, wenn man darauf sitzt. Darnach soll er gestaltet sein. Man soll den Stuhl erfühlen, er soll nicht bloß schön sein, er soll den Charakter an sich tragen, dass ein Mensch darauf sitzt. Das ganze Zusammenwachsen des Gefühlssinnes mit dem Stuhl und sogar des geformten Gefühlssinnes - durch die Art, wie Armlehnen am Stuhle sind und so weiter, indem der Mensch seine Stütze an dem Stuhl sucht -, sollte an dem Stuhl zum Ausdruck kommen." Rudolf Steiner, Erziehungskunst. Methodisch-Didaktisches, (Stuttgart 23.8.1919 GA 294)
"Man sollte denken, die Baukunst als schöne Kunst arbeite allein fürs Auge; allein sie soll vorzüglich, und worauf man am wenigsten Acht hat, für den Sinn der mechanischen Bewegung des menschlichen Körpers arbeiten; wir fühlen eine angenehme Empfindung, wenn wir uns im Tanze nach gewissen Gesetzen bewegen; eine ähnliche Empfindung sollten wir bei jemandem erregen können, den wir mit verbundenen Augen durch ein wohlgebautes Haus hindurch führen." Goethe, (Baukunst 1795)
Als dezidierter Zeitgenosse kannte Steiner den Kunstbegriff seiner Zeit, hat sich damit auseinandergesetzt.
Viele Künstler kannte er persönlich, hat sie je in ihrer eigenen Suche gefördert.
Steiners künstlerisches Werk ist vor allem Gestaltung praktischer Wirklichkeit, Antwort auf Fragen konkreter Menschen, kaum Atelierprodukt für Unbestimmt.
Heide Nixdorf: "Arbeit aus Hinsicht und Rücksicht nennt Steiner das Konkret-Künstlerische oder das Kunstgewerbliche." (Stuttgart 23.8.1919 GA 294) "Sie führe zu einer „Wirklichkeit der künstlerischen Scheinwelt“, zu einer andersartigen "Schönheit", für die ein lebensvoller Sinn grundlegend entwickelt werden kann." (Dornach 5.1.1922,GA 303)
(PZ, SN, 11/2015):
Zur Frage anthroposophischer Kunst mögen Steiners Worte aus einer Fragenbeantwortung nach dem Vortrag "Anthroposophie als Moralimpuls und soziale Gestaltungskraft" vom 26.08.1921 interessant sein (GA77b):
"Frage: Würde die Kunst unter dem Einflüsse anthroposophischer Lehren nicht eine Tendenz haben, eintönig zu werden, was nicht interessant wäre? Gibt's nicht eine Gefahr, daß die Kunst einen anthroposophischen Stempel tragen würde, wie von einer besonderen Malerschule?
(Antwort:) Wenn man dasjenige, was aus anthroposophischer Geistesrichtung als Kunst wirklich hervorgehen kann, erfaßt, richtig erfaßt, so wird man, wie ich meine, die Frage gar nicht so aufwerfen, und man wird nicht zu dem Glauben verführt werden können, daß Anthroposophie jemals anstreben könnte, daß Kunst beeinflußt würde durch anthroposophische Lehren. Irgendwie anders zu denken, als daß das Künstlerische aus dem Erleben des im Material flutenden Geistes, des Zusammenlebens mit dem Material hervorgehen könne, kann eigentlich aus anthroposophischer Gesinnung heraus gar nicht angenommen werden.
In einer etwas primitiven Weise fassen sehr viele Anthroposophen diese Sache so auf, daß sie zum Beispiel dasjenige, was ihnen gegeben ist in der Lehre vom Rosenkreuz, dann irgendwie auf eine Tafel hinmalen, und man dann diesen Bildern in allen einzelnen Zweigen begegnet. Da ist inneres Fühlen, innerlich Intendiertes äußerlich festgehalten. Ich helfe mir gegenüber solchen «künstlerischen Versuchen» gewöhnlich dadurch, daß ich in den betreffenden Zweigen sie nicht anschaue, denn das sind allerdings primitive und wenig weitgehende, aber eben verkehrte Versuche, dasjenige, was im Geiste, der nun zum Wort, zur Lehre wird, dargestellt werden kann, das zu übertragen in irgendeinen künstlerischen Aspekt. Das ist Unsinn. Man kann nicht dasjenige, was Lehre ist, ins Kunstwerk hineintragen.
Dasjenige aber, was wirkliche Anthroposophie ist, das führt ja, ob man's nun an der Lehre anfaßt, ob man's an der Kunst anfaßt, das führt zu dem innerlichen Erleben von etwas durchaus Ursprünglicherem, als anthroposophische Lehre ist und anthroposophische Kunst ist, von etwas, was lebendig weiter zurückliegt im Menschen. Schafft man auf der einen Seite künstlerische Formen, die gar nichts zu tun haben mit den anthroposophischen Lehren und stellt man sich dann wiederum aufs Wort ein, auf den Gedanken, so schafft man aus denselben Untergründen heraus Ideenzusammenhänge. Beides sind Zweige, die aus einer Wurzel sind. Aber man kann nicht den einen Zweig nehmen und ihn in den anderen hineinstecken.
Ich kann jedenfalls nicht nachfühlen, daß ein Leben aus einer solchen Kunstentwickelung heraus dazu führen könnte, eintönig zu werden, denn - ich möchte jetzt nur illustrativ sprechen - ich kann Ihnen die Versicherung geben, wenn, nachdem dieser Bau fertig ist, ein anderer von mir gebaut werden müßte, so würde er ganz anders werden, so würde er ganz anders ausschauen. Ich würde niemals imstande sein, in monotoner Weise diesen Bau noch einmal zu bauen; und einen dritten würde ich wieder anders bauen - es wird ja sicher in dieser Inkarnation nicht mehr dazu kommen. Aber ich fühle gerade in dem, was als das Lebendige zugrunde liegt dem Anthroposophischen, daß das in der Kunst über alles Monotone hinauskommt. Ich kann Ihnen sagen, man möchte immer nur wünschen, mit dem, was man kann, nachzukommen demjenigen, was sich vor die Seele hinstellt, und gar nicht in monotoner Weise, sondern in großer Mannigfaltigkeit das zu zeigen, was man eben gern zeigen möchte."
Aber auch Folgendes:
"Es ist aber heute viel mehr notwendig, achtsam sein zu können auf dasjenige, was als Neues vielleicht lallend und unvollkommen zum Vorscheine kommt, als auf das Gefällige, Schöne ein Auge haben zu können. Dasjenige, was Zukunftsmöglichkeiten in sich trägt, wird vielleicht recht unvollkommen zutage treten; aber das Bedeutsame wäre: in dem Unvollkommenen den impulsiven Keim für die Zukunft zu entdecken. Würde man sich nach dieser Richtung Mühe geben, würde man versuchen, das zur allgemeinen Methode zu machen, was wir ja insbesondere beim Bau dieses Dornacher Gebäudes hier zu unserem Grundsatz gemacht haben: mit dem Alten zu brechen, selbst auf die Gefahr hin, im Neuen recht unvollkommen zu sein, - würde das zur allgemeinen Methode werden, dann würde schon einiges Heil für die Menschheit aus einer solchen Sache ersprießen. Was vor allen Dingen notwendig ist, ist das Loskommen von dem Festgeprägten, denn dieses Festgeprägte ist ein Absterbendes." Rudolf Steiner, 31.12.1917 (GA 180)
(PZ, SN, 12/2018)
Zum Bericht "Anthroposophie und Kunst - Erstellt von Stephan Stockmar | 06.09.2018":
Was Stephan Stockmar als Schwierigkeit der Zuordnung kennzeichnet, mag stimmen, bleibt aber leider am Ende leer. Es stimmt nur unter heimlicher Voraussetzung vollständiger Klarheit der Unterbegriffe "Anthroposophie" und "Kunst".
Z.B. Anthroposophie: Ist sie "Weisheit vom Menschen" schlechthin, dem Wortsinn nach; eine jede solche? Einfach eine spirituelle Anthropologie? Sind es die Inhalte von Steiners Weltanschauung oder die aller seiner Jünger oder Nach-denker? Sind es auf Steiners Art gewonnene Geistesforschungsergebnisse, auch in Bereichen gänzlich unsteinerscher Inhalte, wäre also die Ihnen zugrundeliegende Methode entscheidend?
Die Schwierigkeit der Zuordnung ist Begriffsimmanent, gilt bereits für jeden einzelnen Begriff: Was ist Waldorfpädagogik, was Christentum, was Islam...?
Aber auch: Was wäre "Holz" oder "Baum"? Wer z.B. sich wirkend konkret mit verschiedensten Hölzern auseinandersetzt, dem wird gar irgendwann zweifelhaft das Recht, diese zusammenfassend zu benennen. Wer wahrhaft hörend sich einfühlt in die Welt der Laute, dem verlieren der Laute Grenzen sich. Genügend genau geschaut wird jeder Begriff zweifelhaft, hat jedes Begriffsfeld unscharfe Ränder, egal, wie genau jemand definieren mag – spätestens einige Jahrzehnte weiter zeigt sich allemal, dass bereits zeitlich dieselbe Definition anders interpretiert wird.
In Stockmars Bericht befremdet die Suggestion absoluter Begriffe: Wer bestimmte denn, dass "Kategorien einheitlichen Kriterien folgen sollen und sich insofern einander ausschließen"? Warum sollte ein "Mandalas malender christlicher Mönch und Zenmeister" nur entweder christliche oder buddhistische Kunst schaffen können? - Warum nicht durchaus z.B. muslimische auf indonesische Art und dabei eine Schule des 17ten Jahrhunderts erneuernd? Keinen Kunstwissenschaftler kenne ich mit solch enger Begriffsnutzung, selbst von unverständigen Menschen erlebte ich keine solche. Von welchem Standpunkt aus blickt Stockmar hier?
Z.B. christliche Kunst entwickelt sich in Art und Inhalt. Christsein / Christentum / christliche Kirche(n) – das sind unterscheidbare Dinge. Der Christus-Impuls selber aber wirke fort, ward bisher kaum erfasst, werde erst zukünftig ganz erkennbar werden - so Steiner, der ihn als wirksam identifiziert sogar in der inhaltlich fernen Naturwissenschaft. So trägt alles den Namen christlich zu Recht oder Unrecht - je nach Perspektive. Steiner greift in spirituelle Wirklichkeit, er begreift frei von allen Definitionsnöten.
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- Rudolf Steiner hat künstlerische Impulse realisiert, gewiss nicht alle vollständig, vermutlich überhaupt nicht alle – drum kann niemand ausschließen, dass Impulse Anderer - scheinbar fremde oder ganz neue - nicht auch seine sind, von ihm geteilt werden. (Ja, kein Konjunktiv!)
- Steiner hat nachweislich viele Menschen seiner Umgebung in je ihren eigenen Impulsen bestärkt, sie ermutigt, nicht etwa sie vor seinen Karren gespannt.
- Im Sinne von Stirner, Nietzsche und dessen Zarathustra hat Steiner nicht Nachahmer, sondern freie Eigene auf Augenhöhe gesucht. Das spricht aus seinen frühen Schriftwerken ganz direkt, insbesondere aus seiner Philosophie der Freiheit. Das lässt sich auch nachfühlen an der großen Beweglichkeit, mit der er Anderer eigene Impulse integriert und teilt, z.B. Ballmers Kunstimpulse zur Waldorfpädagogik ganz und gar nicht von seiner Pädagogik ausschließt.
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In diesem dreifachen Sinn dürfen sich alle ermutigen, selbst zu forschen, frei zu schaffen, frei sich zu fühlen von aller engen Nachfolge.
Immer hängt der Wert eines Begriffs ab vom Kontext:
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- Fragt mich z.B. ein junger Mensch in der „anthroposophischen Diaspora“ in Brasilien, aus sozialem Bedürfnis einen identitätsstiftenden Schulterschluss mit seinesgleichen suchend, nach anthroposophischer Gestaltung seines Hauses, dann braucht es keine Begriffsphilosophie, sondern Vermittlung dessen, was aktuell in (¡)südamerikanischen(!) Waldorf/Demeter-Kreisen üblich ist.
- Möchte ein Unternehmer des Kunsthandwerks den Waldorfkreisen dienstleisten, braucht es als Beratung beides: Einblick in aktuell geschätzte Eigenarten wie Analyse der Geschmacksentwicklung dieser Zielgruppe.
- Kommt ein Architekturstudent ob der bunten Vielfalt der Waldorfschulbauten ins Zweifeln, dann hilft einerseits sicher ein Exkurs zu den Quellen, zu den Spezifika Steiners Gestaltungsimpulse - andererseits ein Hinweis auf die Freiheit, welche Rudolf Steiner den von ihm Beratenen in deren eignem Tun ließ.
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(Ein zusätzlicher Blick auf die Begriffs-Sauberkeit, welche Steiner pflegte und schätzte, schadet gewiss nicht. Braucht doch der Kurzschluss, je eigene Elaborate gleich "antroposophisch" oder "Steinersch" zu nennen, nicht wiederholt werden.)
Da begreift ein Mensch, ist der Begriff nicht fixe Definition, sondern tätiges Begreifen - der vielgerühmte "lebendige Begriff" meint nichts anderes. (Zwar wird er gerne benutzt, um Klarheit auszuweichen.)
Steiner selber beklagt in Nebensätzen den Gebrauch des Begriffes "Anthroposophie" (möchte am liebsten jede Stunde einen neuen finden!) - und nutzt ihn doch: Wir können nicht anders uns verständigen. Ohne bestimmten Standpunkt kann nicht begriffen werden (1910 Anthroposophie - ein Fragment). Jeder Hörer guten Willens aber kann lauschend erfahren, wie je konkret der Begriff je greift.
Es ist ein Charakteristikum unserer Zeit, keine Stellung zu beziehen.
Z.B. von vielen Vertretern des Christentums wird "das Christliche" längst heruntergebrochen auf das Allgemeinmenschliche. "Christlich" als unterscheidendes Adjektiv wird vermieden. Da spricht die Angst vor Dogmatismus und Sektierer-Enge, vor abgrenzender Überheblichkeit. Die Angst ist verständlich, die Vermeidung deutlichen Begreifens führt jedoch nicht weiter.
Und schließlich - in gleicher Weise das "Anthroposophische" zu scheuen, es zu reduzieren auf eine Hilfe zu Tieferem und Höherem - da winke keine Überheblichkeit? ("Anthroposophie hilft, den künstlerischen Prozess – sei es im Hervorbringen oder im Betrachten – tiefer zu verstehen und zu intensivieren, nicht mehr und nicht weniger." - ist Anthroposophie eine unter vielen solchen Hilfen, ist mit diesem Satz wenig gesagt, soll sie aber als eine besondere oder gar die Hilfe gemeint sein, dann kann ich das nur wieder als sektiererischen Hochmut lesen.)
"Im Sinne dieser Betrachtung bedarf es keiner Abgrenzung anthroposophischer von anderer Kunst" - das stimmt. Was aber ist ihr Sinn?
Genau im gleichen Sinne ist auch Medizin einfach Medizin und "anthroposophische Medizin" überflüssig, sind Pädagogik und Landwirtschaft einfach...
Meine Frage ist, wer solchen Bedarf hat und wie dieser befriedigt werden kann. (Künstler selbst haben selten Bedarf nach begrifflicher Fassung oder Abgrenzung.)
Ich habe den Bedarf erlebt, als Student und von Mitstudenten, als reisender Architekturberater, als ausführender Baukünstler von vielen Laien je im Gespräch. Nie erfuhr ich diesen Bedarf als einen nach derartiger Ausschließlichkeit, immer wurde Orientierungshilfe gesucht, als Rankstab oder Leitlinie, jedenfalls im Sinne eines beweglichen Innenskelettes, nicht einer kommoden Schublade.
Endlich wird der Begriff "anthroposophische Kunst" eben einfach tatsächlich benutzt - von Laien hinweisend zumeist, sehr selten abgrenzend. Als Klassifikation oder zur Kanonisierung würden ihn eh nur Historiker verwenden. (Henrik Hilbert schrieb ein für dieses Thema lesenswertes Stück: „Wege zu einem neuen Baustil...“, Interpretation zwischen Deutung und Handeln am Beispiel anthroposophischer Architekten zwischen 1925 und 1939.)
Zu jeder Begriffsbildung gehört die Frage, ob kunstaktive Hochschüler damit über die Richtung ihres Schulungsweges und seine Nähe zu Steiner wetteifern, ob z.B. die Hochschule Sinn stiften will dem tatsächlichen Begriffsgebrauch in der weiten Welt, oder ob z.B. Künstlergruppen so gesellschaftliche Nähe oder Ferne bestimmen, Zugehörigkeiten nennen.
Rankstab versus Schublade, Mars<>Merkur
Unterscheidung ja, Dogmatismus nein:
Stil-Kriterien aus "dornach Design"
- Möbelkunst 1911 bis 2011 - von Reinhold J. Fäth, © 2011 Futurum Verlag, Dornach, Seite 27, Kapitel "Goetheanum-Stil und Antibaushausdesign"
"Das Was bedenke, mehr bedenke Wie." Johann Wolfgang Goethe
- Unsichtbares Wie
- Gefühl und Farbe
- Liebevolle Zuneigung
- Organik und Ökologie
- Lebendige Flächen
- Oberer Abschluss
- Geometrie und Pentagon
- Formen des kristallisierten Ätherleibs
- Niedersenken und Sprechen übersinnlicher Wesenheiten
- Sichtbare Musik
- Gleichgewicht
- Anmerkungen fortlaufend
Unsichtbares Wie
Der Grundsatz "Geist ist niemals ohne Materie, Materie niemals ohne Geist" besitzt bei Steiner mehrere Bedeutungsschichten. Nicht nur, dass jede dingliche Gestaltung der Materie differenzierte geistige Prägungen durch unterschiedliche Formgebungen erfährt, die wiederum auf Benutzer und Betrachter zurückwirken. Unabhängig vom "Was" des Objekts und dem "Wie" der Form wirke immer auch das "Wie" der Herstellung eines Produkts. Rudolf Steiner forderte von seinen Mitarbeitern am Goetheanum Bau, dass alles "mit Liebe verrichtet werden sollte":50 "Arbeiten wir daran, [...] dass diejenigen, die kommen, um ihn [den Bau] anzuschauen, unbewusst versetzt werden in jene Sphäre der Liebe, mit der er aufgebaut ist!"51 Diese Haltung sollte nicht allein für die künstlerisch-handwerkliche Arbeit gelten, sondern auch für die Produktionsbedingungen in anthroposophischen Firmen - so weit, dass der "Laboratoriumstisch zum Altar"52 würde. Das seelische Klima der Produktion imprägniere die unsichtbare Aura eines Gegenstands, die wiederum auf dessen Benutzer zurückwirke. Fair trade - fair work: Ohne spirituell-ethische Einsichten tendiere der Materialismus zu bedrückenden, freudlosen Arbeitsbedingungen und unsozialer Profitgier, die nach dieser Auffassung unbewusst und negativ manipulierend auf die Benutzer "abfärben".
Wie schon William Morris oder auch Walter Gropius unternahm Rudolf Steiner den Versuch, Qualitäten eines idealisierten Mittelalters für die eigenen Reformbestrebungen zu erneuern: "Ich habe öfters schon darauf aufmerksam gemacht, dass es etwas anderes war als heute, wenn man im Mittelalter durch die Straßen ging. Rechts und links, an jeder Häuserfassade trug alles das Gepräge dessen, der es verfertigt hatte. Jeder Gegenstand, alles, was die Menschen umgab, jedes Türschloss, jeder Schlüssel, war aufgebaut aus etwas, worin die Seele des Verfertigers ihre Gefühle verkörperte. Mit Liebe war alles gemacht. Machen Sie sich einmal klar, wie der einzelne Handwerker seine Freude an jedem Stück hatte, wie er seine Seele da hineinarbeitete. In jedem Ding war ein Stück seiner Seele. Und wo in der äußeren Form Seele ist, da strömen auch die Seelenkräfte über auf den, der es sieht und ansieht. Vergleichen Sie das mit einer Stadt von heute. Wo ist heute noch Seele in den Dingen? [...] Alt und Jung wandert durch ein Meer solcher scheußlicher Erzeugnisse, die die schlimmsten Kräfte der Seele im Unterbewusstsein auslösen."53
Gefühl und Farbe
"Seelische Färbung" - mittels Farbe. Die Anthropologie Rudolf Steiners verbindet seelisches Erleben vorwiegend mit Gefühlen - Gefühle wiederum mit Farben.
Daher mag es nachvollziehbar sein, dass die von Steiner entworfenen Möbel farbig konzipiert waren. Doch nicht nur seine Entwürfe sahen eine intensive Farbgebung vor. Eine Besucherin der Wohnung von Marie von Sivers, der späteren Ehefrau Steiners, überlieferte:
"Auch in ihrer Wohnung waren Dr. Steiners Raumgestaltungs-Versuche zu spüren. Staunend sah man schöne Mahagonimöbel mit dicker violetter Ölfarbe überstrichen, der Farbe der Wände entsprechend."54
Keine Formgebung ohne Farbgebung. Im Sinne anthroposophischen Designs würde man sogar das Umgekehrte voraussetzen: Ohne Farbgebung keine Formgebung. Zuerst wurde Räumen eine seelische Stimmung mittels Farbe verliehen, dann fügten sich die Möbel in den entsprechenden Farben und Formen ein. Und wieder handelte es sich um Wirkungen, die Steiner berücksichtigte: "Man muss wissen, dass die eine Farbe etwas ist, das herausfordernd wirkt, dass eine andere Farbe etwas ist, was Sehnsuchtskräfte auslöst, dass eine dritte Farbe etwas ist, was die Seele über sich selbst erhebt, und eine andere Farbe etwas, das die Seele unter sich herunterdrückt."55
Weitere designrelevante theoretische Ausführungen Steiners über Farbwirkungen ließen sich heranziehen. Dennoch finden sich unter den Schöpfungen seiner Nachfolger vergleichsweise wenige farbige Stücke, vielleicht weil sich Steiners Hinweise meist nur indirekt auf Möbel beziehen und seine Farbgebungsbeispiele dem Zeitgeschmack zu intensiv leuchtend gewesen sein dürften. Hinzu kommt, dass die nach Hinweisen Steiners für die Praxis entwickelten Pflanzenfarben, die für das farbige Beizen von Möbeln verwendeten wurden, nahezu vollständig verblasst sind (oder später entfernt wurden). Nur an lichtgeschützten Stellen findet man noch die erhalten gebliebene, überraschend intensive ursprüngliche Farbgebung.
Liebevolle Zuneigung
Am Beispiel der zitierten Gestaltung von "Fensterreihen" demonstrierte Rudolf Steiner, wie er seine Forderung nach einer Liebe verströmenden Aura der Dinge zu realisieren gedachte. Zum Verständnis ein Vergleich: Man stelle sich Fenster gleich Menschen vor, die quasi militärisch-funktional wie aufgereihte Uniformierte nebeneinander stehen, und im Gegensatz dazu eine Gruppe befreundeter Jugendlicher, die für ein Foto posieren, in liebevollen Gesten sich einander umarmend und zugeneigt. Der Bau des Goetheanum sollte erfüllt sein "von den Empfindungen der Herzen, die in Liebe zusammenströmen sollen. So wirkt im Grunde genommen in dieser ganzen Architektur nichts für sich allein. Nichts ist so angeordnet, dass es für sich allein ist. Das eine strebt zum andern, und jedes strebt dem andern entgegen. Oder, wenn es dreigliedrig ist, so schließt die Mitte die beiden Formen zusamrnen."56
Die Geste der Zuneigung, des einander Zustrebens getrennter Bauelemente, gehört zu den wichtigsten Kriterien anthroposophischen Designs. Steiner hat diese Gestaltungsgeste sowohl mit eckig-facettierten als auch mit gerundeten Formen an seinen Möbeln angewendet.
Seine Entwürfe für Einbaumöbel im Haus Brodbeck in Dornach (Abb. 43) zeigen das Zusammenstrebende der Türen in Ausführungsvarianten mit abgeschrägten Kanten. ln Zusammenarbeit mit den Architekten Hermann Ranzenberger und Ernst Aisenpreis entstanden während der Bauzeit am Goetheanum und an den umliegenden Bauten seit 1915 Möbelentwürfe in jeweils gerundeter oder abgewinkelter Ausführung.
Organik und Ökologie
Die Feststellung, dass innerhalb eines Baukörpers "nichts für sich allein sei", kennzeichnet einen Aspekt organischer Gestaltung im Sinne Rudolf Steiners.
Wie in einem lebendigen Organismus kein Organ isoliert für sich existiert und nicht beliebig an einen anderen Ort versetzt werden kann, sollte auch anthroposophische Gestaltung einen lebendig-organischen Formenzusammenhang aufweisen - im Gegensatz zur modularen, additiven Reihung von gleichen Bauelementen. Die Gestaltung des Goetheanum wurde von Steiner mit dem Begriff der Metamorphose verknüpft, der von ihm auf Goethes Schriften über die Bildung und Umbildung organischer Systeme, vor allem auf die Metamorphose der Pflanzen, bezogen wurde. Die Anwendung des Metamorphose-Prinzips erörterte Steiner ausführlich am Beispiel der Säulenkapitelle des ersten Goetheanum. Verschiedene Prinzipien des Organischen sollten auf künstlerische Weise angewendet werden; Baukörper (Möbelkorpus) und Körperbau sollten organisch korrespondieren: "Alles, was an Gesetzen in der Zusammenfügung der Materie baukünstlerisch vorhanden ist, ist auch durchaus zu finden im menschlichen Leibe. Ein Hinausprojizieren der eigenen Gesetzmäßigkeit des menschlichen Leibes außer uns in den Raum ist die Baukunst, die Architektur."57
Darüber hinaus beinhaltet das Beispiel der Säulen im ersten Goetheanum den ökologischen Aspekt des Organischen hinsichtlich des bewussten und verantwortungsvollen Umgangs mit den dem Organismus der Erde entnommenen Materialien. Die verschiedenen Säulen waren aus unterschiedlichen Hölzern gefertigt. Höchste Sorgfalt wurde aufgewendet in der handwerklichen Verarbeitung von Baustoffen, die nach anthroposophischer Auffassung zugleich differenzierte geistige Wirkungen ausüben. Anthroposophische Möbelbaukunst implizierte deshalb Nachhaltigkeit aufgrund solider Verarbeitung - neben einem spezifisch ausgeprägten Arbeitsethos beim Herstellungsprozess.
Lebendige Flächen
Ein besonderes Merkmal anthroposophischen Möbeldesigns wurde von Rudolf Steiner als «doppeltgebogene Fläche» bezeichnet. Die russische Künstlerin Assja Turgenjeff, eine Mitarbeiterin am ersten Goetheanum, berichtete dazu folgende Episode: «Dann hörten wir von der doppelt gebogenen Fläche, die Seele in die Formen bringt. Zuerst suchte er es uns an seinem Schirm zu machen - doch der Schirm ließ sich nicht biegen. Da musste sein Hut daran glauben, den er unbarmherzig zerknüllte. Er drehte ihn zu einer Wurst, bog dann die Seiten einwärts, sodass im lnnern eine konkave Form entstand. Dann bewegte er vorsichtig die eine Hand nach innen, die andere nach außen, wodurch die Konkave etwas offener, flacher wurde. Eine ähnliche Fläche können sie bei der Schläfe abtasten."58
Doppelt gebogen meint in diesem Beispiel, dass die konvexe Rundung entlang des verdrehten Huts die erste Biegung darstellt und das Einwärtsbiegen dieser "Wurst" entlang einer Längsseite eine zweite, konkave Fläche erzeugt. Die Absicht liegt darin, mittels doppelt gebogener Flächen Seele in die Formen zu bringen und den Oberflächen von Baukörpern eine organisch lebendige Plastizität zu verleihen: "Wie der lebendige Organismus Erhöhungen und Vertiefungen gegliedert aus sich herauswachsen lässt, so wachsen aus der Wand die Formen heraus, und die Wand wird damit zu einem Lebendigen. [ ... ] Aber Formen sind es, Formen, die ebensowenig in der äußeren physischen Welt vorhanden sind, wie Melodien äußerlich vorhanden sind. Diese Formen sind lebendig gewordene Wände. Physische Wände werden nicht lebendig, aber Ätherwände, geistige Wände werden Iebendig."59
Steiner suchte Wände zu gestalten, die keinen abschließenden Charakter haben, sondern durch ihre Formen Fenster zum Geistigen öffnen sollten. Die doppelt gebogenen Flächen waren freilich nur ein Mittel neben anderen, um "lebendig gewordene Wände" zu gestalten. Das Plastische als solches, ob als Relief an Möbelflächen oder als Möbelskulptur ausgeführt, verstärkt den organischen Zusammenhang des Zusammenstrebens einzelner Bauelemente und verleiht dem einzelnen Element selbst eine organische Anmutung. Bei beschnitzten Möbeln und Wohnaccessoires wie Schalen, Bilderrahmen oder Kerzenleuchtern finden sich zahlreiche Variationen des Plastischen - darunter meist auch doppelt gebogene Flächen, die man als "typisch anthroposophisch" kennzeichnen kann.
Oberer Abschluss
Alle oberen Enden oder Abschlüsse von Möbeln erhielten von Rudolf Steiner als «Kopfteil» eine ausgeprägte Gestalt, die mit dem «oberem», geistigen Teil des Menschen korrespondiert. Die «Stirnseite» eines Möbels wird zur spiegelbildlichen Projektion der Stirn des Menschen, wo sich dessen denkender Geist körperlich verorten lässt und wo nach anthroposophischer Lehre die zweiblättrige Lotosblume, ein zu entwickelndes geistiges Wahrnehmungsorgan, seinen Sitz hat.
Dazu ein Beispiel: Als einer der ersten Möbelentwürfe Steiners gilt der sogenannte Theodora-Schrank (Abb. 47), den er vor dem Ersten Weltkrieg für eine Szene der Münchner Mysteriendramen-Aufführungen60 anfertigen ließ. Den oberen Abschluss des Schranks bildet der elliptisch gewölbte Bogen eines Kranzaufsatzes, auf dem Buchstabenfolgen und ein Fünfstern mit Rosenkreuz eingelassen wurden. Später, in seiner Dornacher Schaffensperiode, betonte Steiner die Mitte der oberen Abschlüsse von Schränken (oder Fenstern) nicht mehr symbolisch, sondern plastisch-skulptural.
Die Korrespondenz zum Haupt beziehungsweise Geist des Menschen formte Steiner auch ohne Mittebetonung des oberen Abschlusses, jedoch immer mit einem «geistigen Element» als akzentuierte Gestaltung. Es fehlte nie. So weisen auch alle seine Stuhlentwürfe einen betonten oberen Abschluss der Lehne auf. Deren sorgfältig ausgeführte Kontur am Kopfende ist in der Regel Teil einer geometrischen Figur, meist einer Ellipse, Cassinischen Kurve oder eines regelmäßigen Polygons. Das gekennzeichnete Zusammenstreben von Formen wurde an Schränken nicht nur auf einer Ebene, sondern auch polyedrisch in kristallinen Formen ausgestaltet - in der Art, wie sie Steiner für die Dachformen des geplanten Johannesbaus in München (Abb. 49) oder für Deckenleuchten entworfen hatte.
Erweitert gefasst, sollte Interieurgestaltung nicht allein schützend umschließen und damit von der Umwelt abschließen, sondern durch entsprechende Gestaltung - zumindest partiell - «durchlässig» für die seelische und geistige Umwelt sein.
Geometrie und Pentagon
Das ästhetisch-harmonische Gefühl bei der Betrachtung geometrischer Kurven erklärte Rudolf Steiner neben anderem als Ergebnis unbewusster Rechenoperationen, die wiederum einen Abglanz kosmischer Harmonieerlebnisse fühlbar machen: «Stücke von der Ellipse, Stücke von der Hyperbel werden Sie in unserem Bau überall finden; aber auch Stücke der Cassinischen Kurve, der Lemniskate, wer-den Sie an unserem Bau finden, und Ihr Astralleib wird in diesem Bau genügend Gelegenheit haben, solche [Rechen-]Operationen zu machen.»61
«Wir können uns nicht immer zum Bewusstsein bringen, was darinnen liegt, aber unser Astralleib, unser Unterbewusstsein, in dem Sinne, wie ich es im letzten Vortrag hier angeführt habe, wie er das Mathematische enthält, so enthält er die Geheimnisse des Kosmos und empfindet es in der Tiefe. Wenn der Mensch sagt: Ich empfinde irgendetwas als Schönheit, aber ich kann mir nicht erklären, was es eigentlich ist, - ja, dann geht in seinem Astralleib irgendetwas vor. Das, was vorgeht in ihm, könnte man etwa ausdrücken, indem man sagt: Er fühlt tief geheimnisvolle Mysterien des Weltalls, und das drückt sich nicht aus in ihm durch Vorstellungen und Gedanken, sondern durch ein Gefühl: Ach, schön ist diese Form!»62
Von symbolischen Deutungen geometrischer Formen wie Hexagramm und Pentagramm distanzierte sich Steiner: «Denn glücklich werden wir uns schätzen, wenn wir den alten Unfug der Theosophen überwunden haben, der bei jedem Märchen, bei jeder Gestalt, bei jedem Mythus fragt: Was bedeutet dieses, was bedeutet das? - Unsere Formen sind alle real in der geistigen Welt, sie sind wirklich in der geistigen Welt vorhanden und bedeuten daher nur sich selbst und nichts anderes, sie sind keine Symbole, sondern geistige Realitäten. Sie finden, wenn Sie den ganzen Bau durchschauen, nirgends ein Pentagramm, nirgends die Form eines Pentagramms, nirgends die Veranlassung zu fragen: Was bedeutet diese oder jene Form? Höchstens ganz dezent angedeutet, könnte man an einer Stelle ein Pentagramm hineinsehen, aber nur mit demselben Recht, wie Sie in jeder fünfblättrigen Pflanze ein Pentagramm hineinsehen können.»63
Überschaut man freilich die Fülle anthroposophischen Designs, so endeckt man derart viele «fünfblättrige Pflanzen», vor allem in Form pentagonaler Flächen, dass man diese als Stilmerkmal zu berücksichtigen hat. Aus den geometrischen Verhältnissen des Pentagramms resultiert zudem der Goldene Schnitt, ein Proportionsverhältnis, das Rudolf Steiner gezielt verwendete. Pentagondodekaeder dienten als Grundstein für die Goetheanum-Bauten (Abb. 5I) und als Vorbild für die Dachformen der Umschließungsbauten des projektierten Johannesbaus in München (Abb. 49). Dort sollten auch Varianten von Pentagondodekaedern als farb- und formtherapeutische Räume eines Klinikums verwendet werden.
Als andere Art eines «Abglanzes kosmischer Harmonieerlebnisse» wurden diese Flächen gestaltet, sie wurden aus den Weiten des kosmischen Raums, aus einer vierten Dimension herausgeführt, «wie wenn Kräfte in Flächen sich von allen Seiten des Weltenalls der Erde näherten und von außen her plastisch wirkten [ ... ]. Dadurch aber, dass ein Wesen gestaltet wird von der Peripherie des Weltalls herein, dadurch wird ihm aufgedrückt dasjenige, was nach der Urbedeutung dieses Wortes des Wesens Schönheit ist. Des Wesens Schönheit ist nämlich der Abdruck des Kosmos, mit Hilfe des Ätherleibes, in einem physischen Erdenwesen.»64
Formen des kristallisierten Ätherleibs
In Rudolf Steiners Würdigung des zeitgenössischen schwedischen Künstlers Frank Heyman wird der Aspekt des Schaffens «aus den Kräften des Ätherischen heraus» formal nachvollziehbar beschrieben: «Man sieht einige Kolossal-Gestalten, bei denen der Kopf aussieht wie eine prismatische, aber nicht regelmäßig gestaltete Figur. Hände, Gesten, kurz die ganze Figur ist in der mannigfaltigsten Weise winkelig, eckig gestaltet.» Der Okkultist «hat sogleich den Eindruck: Das ist etwas, das aus einer höheren Welt heraus empfunden ist. Wenn man nämlich weiß, welches die eigentlichen Geheimnisse des menschlichen Ätherleibes sind, wenn man weiß, wie dieser Ätherleib als Kraftleib hinter dem physischen Leib steht, weiß, wie bei jeder Bewegung, die im physischen Leib zum Ausdruck kommt, im Ätherleib jedes Mal eine ganz bestimmte Bewegung vor sich geht, so hat man den Eindruck, als ob der Künstler aus den Kräften des Ätherleibes heraus schaffte und seine übersinnlichen Erlebnisse in diesen Formen hinstellte. [...] Die Grundempfindung, die man im Anblick seiner Kunstwerke hat, ist so, wie wenn er die Frage an sich stellte: Was bin ich. Und wenn diese Frage den ganzen Menschen durchbebt, dann kommt der Ätherleib in eine Regelmäßigkeit hinein, die Frank Heyman in schöner Weise in seinen Werken zum Ausdruck gebracht hat. Was er also darstellt, sind die einfachen geometrischen Formen des gleichsam kristallisierten Atherleibs.»65
Niedersenken und Sprechen übersinnlicher Wesenheiten
Die Formgebung des oberen Abschlusses ist für Steiner deshalb so wichtig, weil sie eine Art «Antennenfunktion» für Geistiges ausüben könne. Mathematisch-geometrische oder «geistspezifisch» plastische Formen bewirken nach Steiner eine Verbindung mit übersinnlichen Wesen:
«Der Mensch stellt sich so dar, dass wir sagen: Er hat den physischen Leib als unterstes Glied seiner Wesenheit. Nun gibt es Wesenheiten, die einen solch groben physischen Leib in ihrer gegenwärtigen Entwicklungsstufe nicht haben, sondern den Ätherleib als unterstes Glied ihrer Wesenheit aufweisen, die aber tatsächlich vorhanden sind. Solche Wesenheiten kann nun der Mensch, mehr als es ohne sein Zutun geschieht, in seine Kreise hereinbannen. In der Tat besteht ein Teil der Kulturentwicklung darin, dass ein Verkehr gesucht wird mit diesen Wesenheiten, die zum untersten Glied den Ätherleib haben. Ein solcher Verkehr wird geschaffen dadurch, dass der Mensch in gewisser Weise physische Leiblichkeiten schafft, welche diese Wesenheiten benützen können, um sich förmlich an sie anzulegen, sich durch sie zu ergänzen; auf diese Weise werden Verbindungs brücken geschaffen zu diesen Wesenheiten. Denken Sie sich, wir würden uns in diesem Blumenkorb, der hier auf dem Pult steht, eine Leiblichkeit vorstellen, die so wäre, dass sie in ihren Formen entsprechen würde gewissen Formen des Ätherleibes der genannten höheren Wesenheiten, so würden diese die Neigung haben, sich da niederzulassen, den Blumenkorb zu umspielen, sich mit ihm zu verbinden. Wir würden sehen, wie dieser Korb Veranlassung gibt, dass da geistige Wesen sich niedersenken, die ihn liebevoll umklammern und sich wohlfühlen, in dieser Weise in die Gemeinschaft der Menschen heruntersteigen zu können. Wir brauchen nur die geeigneten Formen zu schaffen, dann schaffen wir solche Brücken zwischen uns und solchen Wesenheiten.»66
Rudolf Steiner gestaltete plastische Formen, die den Eindruck eines von oben «Niedersenkenden» und «liebevoll Unklamrnernden» vermitteln, und hat vermutlich entsprechende Angaben auch für Möbel gemacht, da sich diese Motive mehrfach als Elemente des oberen Abschlusses erkennen lassen. Die Anwesenheit geistiger Wesen könne durch lebendige Formen sprechen, Wände sollten zu Membranen des Geistigen geformt werden: «Belauschen wir [ ... ] die ätherischen Formen der Pflanzen und bilden wir sie nach in unseren Formen an den Wänden, dann schaffen wir - so wie die Natur im Menschen den Kehlkopf zum Sprechen geschaffen hat - [ ... ] die Kehlköpfe, durch die die Götter zu uns sprechen können.»67
Sichtbare Musik
Für den Möbelbau berücksichtigte Steiner die Goethe'sche Auffassung von der Architektur als «verstummte Tonkunst», das heißt von Proportionen nach mathematisch-musikalischen Zahlenverhältnissen - und zwar bis in kleinste Details, wie Hermann Ranzenberger berichtete." Über den bekannten proportionalen Aspekt «gefrorener Musik» hinaus suchte Steiner das musikalisch Bewegte strömender Linien und organisch fließender Flächen auf neue Weise und als neue musikalische Qualität zu realisieren:
«Wir müssen heute wiederum neues Leben in den bildenden Künsten finden; aber der unmittelbare elementarische Impuls in der bildenden Kunst ist erflossen in vergangenen Zeiten. Seit längerer Zeit, seit Jahrhunderten, bildet sich der andere Impuls aus, der Impuls nach dem Musikalischen hin. Daher nehmen auch die bildenden Künste mehr oder weniger eine musikalische Form an. Das Musikalische ist in künstlerischer Beziehung die Zukunft der Menschheit, und alles Musikalische, das auch sonst in den redenden Künsten zutage treten kann. Der Dornacher Goetheanumbau war im Musikalischen gehalten. Daher ist er als Architektur und Plastik und Malerei vorläufig so wenig verstanden worden. Auch derjenige, der erstehen soll, wird eben aus diesem Grunde schwer verstanden, weil das Musikalische ganz im Sinne der Menschheitsentwicklung in das Plastisch, Malerische, Bildhauerische hineingeführt werden muss.»69
Der abgebildete «Tisch» anthroposophischer Provenienz, ein Werk von Hans ltel, erscheint zunächst eigenwillig bildhauerisch ausgeführt. Entdeckt man jedoch die Orgel im Atelier des Künstlers und übersetzt sich deren strömende Klangfülle in die an- und abschwellenden Formen des skulpturalen Tischunterbaus, erscheint das Rätselhafte der Formgebung «verständlicher» - anders gesagt: Diese musikalische Lösung des Rätsels hört sich zumindest plausibel an.
Allerdings handelt es sich hier um ein extremes Beispiel musikalischer Bewegtheit, die im anthroposophischen Design ansonsten in gemäßigter Form zum Ausdruck kam. Vor allem dessen typische Abschrägungen (vgl. Abb. 56) wurden neben dem Aspekt des Zusammenstrebens von Formen als Bewegungsqualität verstanden. in jeder Schräge, ob linear oder flächig, kommt «eine Bewegungstendenz zum Ausdruck, zum Beispiel eine Bewegung von unten nach oben, die in die Horizontale einmündet. - Genauso ergeben sich am äußeren Baukörper durch schräg geführte Flächen, Abkantungen und dergleichen plastische Wirkungen, sie bringen den Körper in Bewegung.» - So der anthroposophische Architekt und Möbeldesigner Felix Kayser in seinem Aufsatz Elemente und Prinzipien organischen Gestaltens.70
Gleichgewicht
In seinem Dornacher Vortrag vom 2. Januar 1915 erläuterte Rudolf Steiner architektonische Aspekte des Gleichgewicht-Schaffens, die schon aufgrund der begleitenden Skizze einen Bezug zum Möbelbau herstellen lassen. Gezeichnet wurden zwei Stützen mit einem darüber gelegten Balken, auf dem eine Kugel lastet. Man könnte die Zeichnung auch als Tisch mit daraufliegender Kugel interpretieren.
«Wir wollen [...] das nicht nur anschauen, sondern fühlen, der Balken muss eine gewisse Stärke haben, sonst wird er von der Last zerdrückt, die Stützen, die Säulen müssen eine gewisse Stärke haben, sonst werden sie zerquetscht. Wir müssen mit der Kugel oben ihr Lasten erleben, mit den Säulen ihr Stützen erleben, mit dem Balken sein Gleichgewicht erleben. Erst dann empfinden wir architektonisch, wenn wir also hineinkriechen in das Lastende, in das Stützende und in das Gleichgewicht zwischen dem Lastenden und dem Stützenden.» Rudolf Steiner sagt weiter, dass dieses Erleben so intensiviert werden könne, dass man über die sinnlichen Qualitäten hinaus spirituelle mitempfinden werde. «Da fühlen wir ein stützendes, ein hinaufstrebend stützendes Luziferisches; ein lastend hinunterdrückendes Ahrimanisches; ein Gleichgewicht zwischen Luziferischem und Ahrimanischem: ein Göttliches.»71
Zur architektonischen Gleichgewichts-Gestaltung gehört die plastische: «Am Leben muss man lernen, Gleichgewicht zu schaffen zwischen dem Erstarrenwollenden und dem Flüssigwerdenden. Sehen Sie sich die Formen unseres Baues an: Überall das Gerade in das Gebogene übergeführt, Gleichgewicht gesucht, überall der Versuch gemacht, das Erstarrende wieder aufzulösen in Flüssiges, überall Ruhe in der Bewegung geschaffen, aber die Ruhe wiederum in die Bewegung versetzt.»72
Die Formensprache des ersten Goetheanum fand laut Steiner ihren konzentrierten Ausdruck in der Skulptur des sogenannten Menschheitsrepräsentanten (Abb. 57 und 58), der die menschliche Suche nach einer ausgewogenen psychischen Verfassung, einer beweglich individuellen, humanen Mitte zwischen extremen Gefühlen, Ideologien und Handlungen repräsentiert.
Alle anthroposophischen Gestaltungsmaximen münden letztlich in eine Beziehung zur zentralen Figur des ersten Goetheanum-Baus, die von Steiner als Christusdarstellung bezeichnet wurde. Die skizzierten Kriterien anthroposophischer Gestaltung können deshalb auch als Attribute einer christlichen Spiritualität aufgefasst werden: Vom liebevollen Herstellungsprozess und dem liebevollen Zueinanderneigen bis zum intendierten Herabbitten und Herniedersenken übersinnlicher Wesenheiten - die Dimension zentraler christlicher Werte und kosmologischer Vorstellungen ist in den anthroposophischen Stilkriterien erkennbar.
Anmerkungen fortlaufend:
- 50Alfred Hummel, zitiert nach Hella Krause-Zimmer: Hermann Ranzenberger. Ein Leben für den Goetheanum-Bauimpuls, Dornach 1995, S. 101.
- 51 Rudolf Steiner: Okkultes Lesen und okkultes Hören (GA 156), Dornach 32003, S. 167.
- 52 Siehe zum Beispiel Rudolf Steiner: Das esoterische Christentum und die geistige Führung der Menschheit (GA 130), Dornach 41995, S. 116.
- 53 Rudolf Steiner: Mythen und Sagen. Okkulte Zeichen und Symbole (GA 101), Dornach 21992, S. 158f.
- 54 Assja Turgenieff: Erinnerungen an RudolfSteiner und die Arbeit am ersten Goetheanum, Stuttgart 31993, S. 35.
- 55 Rudolf Steiner: Wo und wie findet man den Geist? (GA 57), Dornach 21984, S. 209.
- 56 RudolfSteiner: Wege zu einem neuen Baustil (GA 286), Dornach 31982, S. 7I.
- 57 Rudolf Steiner: Kunst im Lichte der Mysterienweisheit (GA 275), Dornach 31990, S. 43.
- 58 Assja Turgenjeff: Erinnerungen an Rudolf Steiner und die Arbeit am ersten Goetheanum, Stuttgart 31993, S. 64.
- 59 Rudolf Steiner: Wege zu einem neuen Baustil (GA 286), Dornach 31982, S. 68.
- 60 Mysteriendramen: In seinen vier Mysteriendramen (Die Pforte der Einweihung, Die Prüfung der Seele, Der
Hüter der Schwelle und Der Seelen Erwachen), die zwischen 1909 und 1913 uraufgeführt wurden, behandelt Rudolf Steiner den Einweihungsweg unterschiedlicher Individuen vor dem Hintergrund ihrer jeweiligen karmischen Situation und der fortschreitenden Menschheitsentwicklung. - 61 Rudolf Steiner: Wege zu einem neuen Baustil (GA 286), Dornach 31982, S. 68.
- 62 Ebenda, S. 9I.
- 63 Rudolf Steiner: Wie erwirbt man sich Verständnis für die geistige Welt? (GA 154), Dornach 21985, S. 102.
- 64 Rudolf Steiner: Damit der Mensch ganz Mensch werde (GA 82), Dornach 21994, S. 87ff.
- 65 Rudolf Steiner: Der Budapester Internationale Kongress der Foederation Europäischer Sektionen der Theosophischen Gesellschaft. Zitiert nach Rudolf Steiner. Das malerische Werk, Dornach 2007, S. 34.
- 66 Rudolf Steiner: Natur- und Geistwesen - ihr Wirken in unserer sichtbaren Welt (GA 98), Dornach 21996, S. 243.
- 67 Rudolf Steiner: Wege zu einem neuen Baustil (GA 286), Dornach 31982, S. 70.
- 68 Ausführlicheres dazu in meinem Buch Rudolf Steiner Design. Spiritueller Funktionalismus, Dornach 2005, S. 141.
- 69 Rudolf Steiner: Das lnitiaten-Bewusstsein (GA 243), Dornach 62004, S. 233.
- 70 Felix Kayser: Elemente und Prinzipien organischen Gestaltens. In: Stil. Goetheanistisches Bilden und Bauen, 1,1979/80, S. 8.
- 71 Rudolf Steiner: Kunst im Lichte der Mysterienweisheit (GA 275), Dornach 31990, S. 117f. Vgl. auch Anmerkung 2 zum Kapitel Wilhelm von Heydebrand.
- 72 Rudolf Steiner: Die Polarität von Dauer und Entwickelung im Menschenleben (GA 184), Dornach 1968, S. 169.
Stil-Kriterien der "Dresdner Gruppe"
(PZ, SN, 10/2015)
In der Bildhauerschule von Wolfgang Zimmer und der nachfolgenden "Dresdner Gruppe" wurde um 1989 mit "Kriterien" gearbeitet - in loser Weise, vielleicht nicht alle kann man philosophisch korrekt Kriterien nennen. Sie dienten als Werkzeug, um Gegenstände und Formen mit Bewußtsein auf ihre Qualitäten hin abzuklopfen. Sie waren nie Anleitung zum Schaffen, kein Erfüllungsgesetz ließ sich daraus ableiten.
Eine Hilfe zum Schaffen war die Methode des Bauens! In gegliederter Weise wird Teil auf Teil zum Bestehenden gefügt. Dadurch, dass es verschiedene Teile gibt, wird Gespräch zwischen ihnen möglich. "Dich halte fest und trage ich", "Dich neige und umgreife ich" - so sprechen die Formen miteinander.
Zwar dann das Geschaffene kann wieder mit Hilfe der Kriterien befragt werden.
Die waren uns sehr wichtig, auch entsprechende Vorträge Steiners dazu:
- "Man denkt eben nicht mit dem Gehirn, man denkt in Wirklichkeit mit seinem Knochenbau, wenn man in scharfen Denklinien denkt... Aber, wenn man das innere des Knochens anfängt zu erleben, ...sie lernten damit die Linien kennen, welche von der Götterseite her in die Welt gezeichnet waren, um die Welt zu konstituieren." Rudolf Steiner: Mysterienstätten des Mittelalters, Rosenkreuzertum und modernes Einweihungsprinzip, 12.01.1924 (GA233a)
- "Das Knochensystem ist der imaginierte Mensch, ausgefüllt mit Materie" Rudolf Steiner, Die Welt der Sinne und die Welt des Geistes, 30.12.1911 (GA 134)
- Oder zur Geisterfülltheit des physischen Leibes (als Form!) überhaupt: (GA131)
Und sehr impulsierend ist grade für die Frage nach friedenstiftenden Formen:
Rudolf Steiner, Dornach, 11. November 1923: “Der Mensch als Zusammenklang des schaffenden, bildenden und gestaltenden Weltenwortes” – zwölfter Vortrag, (GA 230):
“...Und so müßte eigentlich, ich möchte sagen, gehofft werden, daß alles das, was an Menschenunverstand und Menschenhaß durch die Menschen, wenn sie durch die Pforte des Todes gehen, hinaufgetragen wird in die geistige Welt, daß das auch wiederum dem Menschen mitgegeben wird, das heißt, daß daraus, es veredelnd, Menschengestalten geschaffen werden.
Nun hat sich aber im Laufe von langen Jahrhunderten für die gegenwärtige Entwickelung der Erdenmenschheit etwas sehr Sonderbares ergeben. Es konnten in der geistigen Welt nicht alle Menschenunverständnis- und Menschenhasseskräfte für neue Menschenbildungen, für neue Menschengestalten aufgebraucht werden. Es blieb ein Rest...”
Das verstehe ich direkt als Aufforderung, menschliche Gestalt zu geben einem jeden Ding, sei es eine Wiege oder ein Vortrag.
Ich meine, dass es darum geht: zu gestalten in menschlichem Maß – weil damit direkt Frieden geschaffen wird!
Stabkirchen
Sie zeigen den "Schein des Bewußtseins" in vielen Details, ebenso die "Anwesenheit des je Polaren", die menschlich-maßvolle Verschränkung der Qualitäten - das alles bei großer Vereinfachung: hirtlich im Königlichen.
Wärme, auf- und absteigende Wärmeformen...
Rundung hat viel Gewicht. "Und wir, die einen neuen Baustil begründen wollen, der ja hier nur unvollkommen sein wird, weil wir für mehr nicht die Mittel haben, wir wurden nun inspiriert mit Bauformen, die im Großen und in Einzelheiten das Runde hervorheben." Rudolf Steiner, Wege zu einem neuen Baustil, (GA286)
- Rundung, aber von etwas bestimmtem, also einer Fläche... neben einer anderen! Nicht alles wird rundgehudelt, dann wäre es wieder nur eine zwar weiche Kante. Nein, die obere Fläche spannt sich bis zu einer Kante, welche sie deutlich von einer seitlichen Fläche gliedert.
- Eine Tischfläche z.B. erhält Spannung, wie Wasser sie zeigt - zwar ist die Oberfläche mittig flach, zeigt jedoch mit der "Wärme", der bis zur Kante sich steigernden Krümmung eben Oberflächenspannung, innere Kraft.
- An solcher "Kraft von Innen" wird Wachstumskraft erlebbar, hier ist noch Zukunft...
Aufrichtekraft
Es ist eine Grundtendenz, dass in der Menschenbildung der Schwerpunkt über der Mitte liegt, die größte Ausdehnung oben ist. Auch das Ei als eine plastische Urform zeigt das, die Achse liegt schräg, "das dicke Ende will nach oben..."
Freilich gibt es viele Beispiele von Gegenbewegungen...
Oben - Unten
Differenzierung ist gefragt (GA 302):
- Konvex - Konkav, der Mensch zeigt es in seiner Leibbildung: nach oben wölbt sich der Kopf, unten muldet sich das Doppel der Füße. Jeder Knochen hat oben seine "Kugel", umgreift unten die "Kugel" darunter (zwar manchmal ist die Richtung umgebogen, z.B. beim Oberschenkelkopf). Leber und Lunge wölben sich über ihre unteren Nachbarn, bilden nach oben Rundung aus (zwar die Nieren zeigen Drehung).
- Sphärisch - Radial, des Menschen Leibbildung zeigt es auch so: der Kopf ist das Runde schlechthin (wenn es auch Quadratschädel gibt), am Gliedmaßenpol herrscht Strahligkeit bzw. Würfeligkeit bei den Wurzelknochen.
- Rund - Eckig, auch sonst scheint das stimmig, kubische oder kantige Formen erleben wir als zum physischen Boden gehörig, zum Mineralreich mit seiner Schwere, runde Formen finden sich in Kuppeln und Blüten, Baumkronen und zuletzt der Himmelssphäre selbst.
- Einfach - Vielfach, der Kopf als das Erste ist auch das (zunächst) Einfache. Ei!.
Dann geht es in die Vielheit. 2 Unterarmknochen, 3+4 Wurzelknochen und mehrfach je 5 Fingerknochen dann... - Synthetisch - Analytisch, Ei wie Nuss sind unentfaltet. Im Kopf des Menschen lassen sich zwar Zuständigkeiten der Hirnregionen finden, diese sind jedoch nicht absolut und gestaltlich schwer voneinander zu unterscheiden. - Im Stoffwechsel-Gliedmaßenbereich ist alles differenziert und ausgebreitet, jedes Organ hat seinen eigenen Wärmehaushalt, seinen individuellen ph-Wert, seine spezifische Form.
- Sein - Tun, der Kopf wird getragen, er ist da, trägt alles in sich. Füße und Hände leben vom Tätigsein, vom zu erfassenden Außen, sind nur vollständig zusammen mit dem Umraum und ihren Taten darin.
Da gibt es viele Hinweise von Rudolf Steiner, Hedwig Hauck hat sie dankenswerterweise zusammengestellt in ihrem Werk "Kunst und Handarbeit: Anregungen von Rudolf Steiner für Pädagogen und Künstler (Menschenkunde und Erziehung)". Aus diesem Buch stammen die Zeichnungen der nächsten Galeriebilder:
"Ja, wo ist denn da oben und unten? Man muss doch das äußerlich dem, was da als Verzierung dran ist, ansehen, wo etwas hineingesteckt wird, wo unten oder oben ist..." (5.1.1922: GA 303)
"...Es wird nicht darauf gesehen, dass in der entsprechenden Weise etwas, was man oben am Hals trägt, den Charakter dessen tragen muss, daß es oben..." (19.8.1924: GA 311)
Wie zuvor, manches doppelt sich:
- Sphärisch - Radialstrahlig/Würfelig
- am Eis kann man das schön erleben: junges Eis besteht aus zähe Häuten, sphärisch auf der Teichoberfläche sich breitend, manch Bruch betrifft nur eine Haut, darunter die nächste bricht unabhängig woanders. Altes Eis bricht radial (vom Erdmittelpunkt aus), manchmal kann man 15cm mit einem Tritt durchstoßen und lauter Stifte tauchen auf. (Ist es durch aufsteigende Blasen vielfach durchlöchert?)
- Bäume zeigen im frischen Schnitt ihre Jahresringe, diese dominieren das Bild. Alte Schnitte reißen radial, ein Stern erscheint, am Ende löst zersetzendes Holz sich in lauter Würfel fast auf.
- Rund - Eckig, Babyspeck und Hagerkeit des Greises
- (PZ, SN, 9/2017 erweiternd neu gefügt nach dem 5.Werkstattgespräch zum 2. Goetheanum mit Piet Sieperda.)
Mit den Vorträgen "Kunst im Lichte der Mysterienweisheit" setzt Rudolf Steiner Ende September 1914 auseinander:
"Ein Hinausprojizieren der eigenen Gesetzmäßigkeit des menschlichen Leibes außer uns in den Raum ist die Baukunst, die Architektur" - Architektur entstehe durch das Hinausprojizieren der "Kräftelinien des physischen Leibes des Menschen" (GA 275, Seite 43 und Seite 57/58) - das ist grundsätzlich für alle Baukunst gesagt, jedoch mit dem Zusatz: "wenn es sich um wirkliche Kunst dabei handelt, selbstverständlich."
Wenig später im November 1914 beschreibt er mit den Vorträgen "Die Welt als Ergebnis von Gleichgewichtswirkungen" den Menschenleib dann als dreifache Gleichgewichtswirkung zwischen Luzifer und Ahriman im Links-Rechts, Vorne-Hinten und Oben-Unten.
Wie unser eigenes Wollen, Fühlen und Denken sich da hineinfindet, wird am 9. April 1920 auseinandergesetzt (GA 201, Seite 17ff).
Kräftelinien, Leitlinien - die kann man verstehen als Verbindungslinien zwischen Polaritäten, den Qualitätswandel auf ihnen beschreiben:
Oben - Unten als Kopfwärts - Fußwärts:
- Konvex ~ Konkav (Kopfwölbung - Fußmuldung, auch bei Röhrenknochen, z.B. Oberarm, bei Leber/Lunge/Niere...)
- Innerlichkeit, gerundet - Außenreagierend bis geteilt, gegliedert, zergliedert
- Einheit - Zweiheit/Vielheit
- Sphärisch - Strahlig, Radial
Unser Fühlen wägt zwischen Oben & Unten, Hoch & Niedrig, Gut & Böse ~ eine Welle ist das "konvexkonkav".
Hier herrscht deutlich Differenzierung. Zwar soll gelten: "Wie oben, so unten", eine Entsprechung findet sich aber per Umkehrung: Was oben sich von innen nach außen wölbt, spricht unten von außen nach innen.
Vorne - Hinten als Gesicht - Rücken:
- Fassade - Hinterhof
- Präsentieren - Verbergen
- Schein - Sein
- Schönheit - Unschönheit?
- Offen - Geschlossen
- Weich - Hart
- Beweglich, Dynamisch - Fest, Statisch
Hinter uns liegt Vergangenheit - unsere Vorstellung bildet sie ab.
Unser Wille führt nach vorn - zum Schönen?!
Auch hier erkennt man deutliche Differenzierung, jedoch ganz anders als im Oben - Unten.
Nicht Konvex - Konkav! Diesbezüglich herrscht Wechsel.
Ferse/Kniekehle/Gesäß/Kreuz/Schulterrücken/Atlas/Hinterkopf - des Menschen Rückseite zeigt mit ihrer Welle, als Umrisslinie nur, wie rückseits zur Ruhe tendiert, was vorne so stark ist, dass die Grenze sich auflöst: die Reliefenergie. Die Konkavität steigert sich zu Einlasstoren bei Mund und Vagina - Lippen und Zunge, Penis und Brüste wölben weit in die Welt sich hinein. Hände, nicht als statische Gegenstände betrachtet, sondern richtig in ihrer lebendigen Zeitgestalt als handelnde Gliedmaßen begriffen, lösen sich in die Welt hinein auf, die Konvexität steigernd. Der Welt entgegen, nach vorne begreift und umfasst der Mensch mit seinen Gliedmaßen (und Kiefern) die Welt, öffnet sich ihr mit all seinen Sinnen, nimmt aktiv sie auf mit Atem und Nahrung. Hier gewinnt er aufnehmend und verinnerlichend Erkenntnis. Hier greift er ein, schafft und gestaltet mit Sprachtat und Handlung. Erkennen ist Lieben, auch die leiblichen Liebesorgane zeigen in ihren Formen Zeugung und Empfängnis, Einschmiegen und Umgreifen, Eindringen und Aufnehmen. Minnen ist Meinen - beides ein "Mir-einen".
Links - Rechts:
- Warm - Kalt
- Lauschend fühlend - Energisch tätig
- Wohnbauten - Zweckbauten (Hierzu ist interessant die Verteilung der Funktionen in der Gesamtanlage der Goetheanumbauten)
Unser Denken scheidet in wahr oder falsch, Recht vom Unrecht?
Hier herrscht gesamtgestaltlich Symmetrie, zwar eine lebendige. Des Menschen Gestalt zeigt klar eine Achse, zwar ist der lebendige Mensch immer bewegt, eine starre Gleichheit zweier Hälften gibt es nicht. Und innen im Funktionalen herrscht teilweise wirkliche Asymmetrie:
- Gliedmaßen: Standbein - Spielbein, Bogenarm - Spielarm (Geige)
- Auge: Schauend - Blickend
- Lunge: links schweben zwei Flügel - rechts stehen drei, drum fällt jeder Fremdkörper rechts hinein
- Verdauung, Magen/Leber/Darm, alles asymmetrisch...
Asymmetrische Formen findet man sinnvoll z.B. beim einseitigen Anbau (Rudolf Steiner Halde), bei einseitig angeschlagenen Türen, aber auch bei einzelnen Schuhsohlen oder seitlich gebundenen Mappen empfohlen.
"Der Bau wird Mensch", also Du und Ich, wenn klar seine drei Achsen sind, das scheint Bedingung.
Identifikation wird möglich durch Projektion des ganzen Menschen - Womit?
Betrachten wir des Menschen Leib, so finden wir in jedem Teil den ganzen Mensch: Fußreflexzonen, Irisdiagnose, Ohrakkupunktur...
Interessant sind in diesem Sinn des Goetheanum Gesamtanlage und jedes Gebäude. Jedes Portal, jede Tür, jedes Möbel kann die Ganzheit sein.
Dreigliedrigkeit
Ballung-Streckung-Ballung als menschliche Art.
Höhere Pflanzen zeigen auch dies Prinzip. Von Knoten zu Knoten ist schwungvolles Überbrücken, an den Knoten selber kommt die Bewegung zur Ruhe, sammelt Kraft für den nächsten Schwung...
Zwar gibt es auch Stacheln und Dornen, die enden sich verjüngend spitz, aber da wächst nichts mehr. Der zeigende Finger? Immer geht die menschlichste Gebärde in die Weite...
Alle Gliedmaßenknochen zeigen das in Reinkultur, unten gibt es die aufnehmende konkave Ballung, dann in spiraligem Fluss die Streckung, am oberen Ende die rundende, konvexe Ballung - sie gibt den Impuls in die nächste Konkavität weiter. Bei Vogelknochen kommt das vor, dass die Streckung in zwei Hälften reißt wie eine Lemniskate in zwei Tropfen sich auseinandergliedert. Da ist aber doch der Bezug zu erleben, die Weitung wiederzufinden.
Im Oben-Unten weichen wir dabei ab von manchem "dornach Design": Ein "Oberer Abschluss" braucht sein Pendant in Sockel und Fuss, zwar menschlich mit deutlicher Aufrichtekraft und Betonung des Oben.
Woher - Wohin
Jede Wölbung soll ihre Herkunft zeigen, der "Impuls" als Mulde unter den Füßen steht in direktem Wirkenszusammenhang mit der Rundung des Kopfes. So bei jedem Knochen...
Auch z.B. beim Kopfteil der Wiege: der Impuls von unten wirkt als eine Kraft von außen, erkennbar an der Eckigkeit, schafft zusammen mit den unteren hohen seitlichen Fugen eine innere Kraft, die oben dann wölbt in die große Rundung des kopfwärtigen Seins.
Genauso beim Fußteil der Wiege. Hier die unteren seitlichen Fugen anders empfunden: sie lenken den Kraftstrom, welcher von unten impulsiert hochströmt, in die Diagonalen nach oben außen ins Tun, ins festhaltende Umgreifen...
Schwer hatte ich es beim Studium mit Fensterbögen. Blieben die Fenster unten rechteckig, so nahmen die Rundungen oben alleine für mein Empfinden nur Wachheit weg. Eine Erlösung wurde mir dafür die Möglichkeit des Woher: manche alten Fenster selbst aus Gründerzeiten noch zeigen zwar keinen Unterimpuls, aber eben seitlich unten solche zusammenfassende Laibungssockel, damit ein Woher.
Eine L-Gebärde ist so erlebbar, indem eine innere Kraft oben nach außen wölbt, unten seitlich von außen her zusammengenommen impulsiert wird. Die Ecksteine im Torbogen sind ähnlich zu empfinden, ein Schlusstein teilt die Gebärde und sorgt so für ein Herumfließen.
(In diesem Doppel von oberem Auseinanderschieben und unteren Zusammenziehen kann man auch das Baumotiv des ersten Goetheanums sehen, welches damit die Kräfte sichtbar macht, die in jedem Gewölbe herrschen.)
Metamorphose
Die Glieder eines größeren Ganzen verhalten sich umso menschengemäßer, je mehr sie Metamorphosen von einander sind. Das heißt u.a.:
Polares je anwesend
Die Anwesenheit des je Polaren bei größtmöglicher Spanne macht das Menschliche aus. Der Schädel ist möglichst rund, hat aber im Gebiss seine eigene Gliedmaßigkeit, die Gliedmaßenknochen sind möglichst strahlig oder im Hand- bzw. Fuss-Wurzelbereich kubisch, tragen aber dennoch alle die Kopfrundung an sich...
So trägt selbst der Verbindungsholm einer Wiege das Bild der aufstrebenden Bewegung durch die konischen Phasen, auch, wenn er nur ganz untergeordnet dienend festhalten muss. So haben selbst die Himmelsbögen am offenen Ende ihre deutlichen Flächen je Richtung, klare Kanten bei aller Rundung.
Es bedeutet auch, dass man mit Zusammenfügungen geometrischer Formen nicht weit kommt: ein Halbkreis auf einem Rechteck mag zwar wohlproportioniert gewählt werden. Aber erst, wenn der Bogen etwas von der Qualität des Rechteckigen hat und das Rechteck solche des Runden, haben beide Partien die gemeinte Verwandschaft.
Solches finde ich zum Beipiel bei der Tür der Stabkirche keimhaft zu entdecken, die Rundung unten fällt direkt auf, der zwar kreisgeometrische Bogen oben zeigt mit seiner "Drahtigkeit" die Kraft des Eckigen:
Schein der Form
Als ob es sich biegen würde... es ist nicht nötig, ein "wirklich rundes Ei" als Wiege zu bauen. Viel spannungsvoller ist es, die graden Bretter so zu raspeln, dass scheinbar sie sich biegen, dass sie eine umhüllende Gebärde bekommen...
Drum braucht es eine gewisse Stärke der Bohlen, denn nur die Behandlung der Schnittkanten mit Drehungen und Schrägen macht solche Bewegung möglich...
Schein des Lebens
Als ob es wachsen könnte... siehe Ballung etc.
fließen, spiralisieren, mäandern - in Oberflächen und diagonalen Bezügen...
Schein des Bewußtseins
Die Teile sollen voneinander und von ihrer Funktion wissen...
Sie werden also nicht stumpf aneinander gefügt zu eigentlich einem gemacht! Sondern durch die gegliederte Bauweise wird ein Gespräch möglich, was wäre erquicklicher? Jedes Teil macht den anderen Platz, die Fuge! Und dann durchdringen sie sich mit deutlichstem Ausdruck ihrer Tätigkeit. Dieses umgreift, jenes hält. Eines trägt ein anderes...
Projektivität
Räumlicher Bezug zueinander ist gefragt:
- Bogenfamilien
- konzentrische Bögen machen einen Mittelpunkt erfahrbar, Ellipsen einer Familie ihre zwei bewirkenden Punkte...
- Ist ein oberer Bogen enger gekrümmt als ein unterer, so schneiden die beiden sich bald, werden weitere Verwandte darüber immer enger und kleiner werden - da fühlt man Bewegung, zunehmende Geschwindigkeit und am Ende einen winzigen Kreis nach oben hinausschießen... die eine Form in zwei teilend.
- Ist der obere Bogen weiter gekrümmt als der untere, gibt es keine Schnittpunkte - man erfährt Stauung und dadurch Kraft im Zur-Ruhe-Kommen.
- Phasen aus einer Raumrichtung: Z.B. eine polygonale Treppenstufe kann man aus einer Raumrichtung anphasen - an Seiten, welche mit dieser parallel gehen, bleibt die Phase dann unsichtbar! (Statt die Phase mit der Oberfräse allseitig sozusagen als Soße darüber zu schütten...)
Letzteres ist von anderer Seite aufgefasst auch "Freiheit vom Stoff" oder "Unabhängigkeit von Stoff und Form", wenn eine Charakter gebende Prägung nicht der stofflichen Form folgt, sondern aus dem Räumlichen kommt.
(Ähnliches kann man beim Schraffierenden Zeichnen erleben, wenn die Schraffur nicht der Kontur folgt, sondern davon unabhängig eine eigene Richtung hat.)
Den Raum selbst gilt es zu gestalten, er werde geformt! Des Stoffes Form mache die Raumform erlebbar. Wie in der Architektur die Form des Raumes selbst (Letztlich das seelische Tun und Lassen der Menschen in ihm!) das eigentliche ist, nicht die materiellen Wände, Decken und Böden - das "Gugelhupf"-Prinzip, beschrieben am 7.Juno und am 21. Nov. 1914. Manch klare "Abrisskante" (Aerodynamik) ermöglicht die Ablösung der Form vom Stoff. (Bei manch wunderschönem konvexen "Knubbel" spielt alles in dessen Innern sich ab, aber jede Konkavität erschafft einen Bezugspunkt außer sich im Raum - und Konkavität ist kaum denkbar ohne Kante, wäre ohne Begrenzung nur von innen erlebbar;-))
"Fehlertoleranz" - Lebenstauglichkeit - Alterungsfähigkeit
(PZ, SN, 5/2019)
Ein altes Fachwerkhaus, ein Ziegelbau, sie mögen Moos an der Wetterseite tragen und Algen in den Fugen, Kratzer von vorbeistreifenden Fahrzeugen, abgestoßene Ecken. Das mindert ihre Schönheit kaum, trägt bei zu Charme und Charakter. Im Gegensatz dazu wirkt manch moderne Fassade nach wenigen Jahren schon schäbig, verträgt keinen Kratzer ohne "kaputt" zu wirken, braucht notwendig Verjüngungskuren durch regelmäßigen Anstrich - als ob solch Architektur eigentlich als Modell für unter Glas gedacht sei.
Das ging uns auf im Workshop bei der Maitagung "angewandte Kunst", dass auch dies ein abzufragendes Kriterium sei: wie lebenstauglich erweist sich ein Objekt? Zwar damals nicht deutlich formuliert, arbeiteten wir Bettler doch seit Beginn damit, ein Bett sollte beides vertragen, Patina und abgesplitterte Ecken.
Z.B. wächst ein Ahorn anfänglich absolut symmetrisch wechselständig - doch solchen Wuchs ideal fortgesetzt gibt keinen großen echten Ahorn! Wildverbiss und Windbruch scheinen eingeplant und geradezu nötig für einen charaktervollen Baum. Vielleicht die einjährigen Pflanzen kennen eine leidlose, schadenfrei sich entfaltende ideale Schönheit, ein Baum braucht Bruch;-)
Wie wissen wir den einen Ahorn nah seinem Urbild, erkennen wir den anderern als abnorm? Wohl wissen wir im Ergebnis zu unterscheiden, welche äußeren Einwirkungen stören und schaden, welch andere dagegen würdevoll altern und Charakter gewinnen lassen, wenn es auch schwerfällt, das zu formulieren.
Viele Dinge heute verlangen Perfektion, ihre Schönheit hängt ab von vollständiger Unversehrtheit. Das heilige Blechle verträgt keine Beule. Jeans andererseits werden gleich pre-rotted hergestellt.
Und natürlich ist auch dieses Kriterium eine Leitinie, also eine gedachte Verbindung zwischen Polaritäten: die zarte Verletzlichkeit der Schönheit von Ei und Blüte einerseits gehört zum Leben am einen Ende richtig dazu, die robuste und verwittertungsbeständige Schönheit von Bäumen wie Greisengesichtern kennzeichnet das andere Ende. Je nach dem verschieden ist ein als stimmig empfundenes Gleichgewicht.
So haben wir die physische Zerbrechlichkeit im Himmelsbereich der Wiege immer als "richtig" empfunden - versuchte Täuschung wäre der Tatbestand von unkaputtbaren Bögen da! Gleichzeitig haben wir die Formen selbst der himmlischen Teile so gesucht, dass fehlende Splitter dennoch nicht stören.
So sollten Sockel am meisten vertragen Lebensspuren, gehört robuste Schlichtheit einfach da hin.
Gedanken zum Teller:
(PZ, SN, 3/2016)
Wie sollte eine anthroposophischer Teller aussehen? Nach den Vorreden sind drei Dinge sicher klar:
- Dass es viele verschiedene geben kann und soll, siehe "Anthroposphische Kunst?"
- Dass eine "organische" Form im Sinn von "geschwungen" keine Garantie für Güte ist, siehe "Wahrheit? - Eine Tür zum Beispiel..."
- Dass der Blick auf die Differenzierung geht, siehe "Stil-Kriterien der "Dresdner Gruppe", 5. Oben - Unten", sich darin der Bezug zu Mensch und Umraum äußert.
Welche Differenzierung kann man erwarten im Oben - Unten, Innen - Außen, Vorne - Hinten und Links - Rechts?
- Die erste des Oben - Unten ergibt sich aus der Grundfunktion, unten braucht es Stand, nach oben wird Schale gebildet, das Essen getragen, gehalten und dargeboten.
- Innen - Außen ist interessant als Frage nach dem Rand des Tellers, ohne solchen würde man eben von einer Schale sprechen: das Anbieten, die Zugänglichkeit wird erreicht, ist sie allseitig gleich?
- Damit ist die Frage nach dem Vorne - Hinten gestellt, hier kommt die Person in den Blick und woher sie löffelt, auch die Frage nach dem Woher des Nachschubs.
- Im Rechts - Links lebt die Frage nach der Dynamik des Essens, es gibt Rechts- und Linkshänder...
Es gibt ein paar Differenzierungen vorweg, die man leicht vergißt, die soziale der Situation und Verhältnismäßigkeit: eine kräftige Aussprache aller Eigenheiten kann da, wo anderes im Vordergrund steht, stören - manchmal ist ein Teller einfach Nebensache und Zurückhaltung die beste Gestaltung, ein individueller Geburtstagsteller mag stärkste Aussprache aller Differenzierungen nahelegen.
Eine weitere Vorfrage wäre, ob und wie sehr solch Differenzierung die Form selber ergreift oder sich im Dekor niederschlägt. Beim Kopfkissen nach Rudolf Steiner zum Beispiel (siehe Stil-Kriterien der "Dresdner Gruppe", 5. Oben - Unten, erstes Bild) bleibt die Form selbst ganz gewöhnlich, eine starke Differenzierung im Kopfwärts - Rumpfwärts ist je unterschiedlich einerseits bei der Naht und andererseits beim Dekor deutlich sichtbar.
2002 wurde von Claus Roeting "Der schiefe Suppenteller" "Excentra" erfunden für eine weitere Funktion: die "Neige" ohne Neigung des Tellers entnehmbar zu machen - schließlich ist jedes Essen endlich, siehe rechts:
Gleichzeitig schuf Albrecht Kiedaisch im Auftrag die folgend abgebildeten Kinderteller, sie haben sich sehr bewährt! Die flache Seite erleichtert schnelleres Abkühlen und hinter der tiefsten Stelle die Steilwand ermöglicht gefahrloses Schieben, siehe folgende Galerie:
Gleichgewicht
- (PZ, SN, 9/2017 nach dem 5.Werkstattgespräch zum 2. Goetheanum mit Piet Sieperda.)
Mit den Vorträgen "Kunst im Lichte der Mysterienweisheit" setzt Rudolf Steiner Ende September 1914 auseinander:
"Ein Hinausprojizieren der eigenen Gesetzmäßigkeit des menschlichen Leibes außer uns in den Raum ist die Baukunst, die Architektur" - Architektur entstehe durch das Hinausprojizieren der "Kräftelinien des physischen Leibes des Menschen" (GA 275, Seite 43 und Seiten 57/58) - das ist grundsätzlich für alle Baukunst gesagt, jedoch mit dem Zusatz: "wenn es sich um wirkliche Kunst dabei handelt, selbstverständlich."
Wenig später im November 1914 beschreibt er mit den Vorträgen "Die Welt als Ergebnis von Gleichgewichtswirkungen" den Menschenleib dann als dreifache Gleichgewichtswirkung zwischen Luzifers und Ahrimans Denken im Links-Rechts, Fühlen im Vorne-Hinten und Wollen im Oben-Unten.
Wie unser eigenes Wollen, Fühlen und Denken sich da hineinfindet, wird am 9. April 1920 auseinandergesetzt (GA 201, Seite 17ff).
Kräftelinien, Leitlinien - die kann man verstehen als Verbindungslinien zwischen Polaritäten, den Qualitätswandel auf ihnen beschreiben:
Oben - Unten als Kopfwärts - Fußwärts:
- Konvex ~ Konkav (Kopfwölbung - Fußmuldung, siehe auch bei jedem Röhrenknochen, z.B. Oberarm, bei Leber/Lunge/Niere...)
- Innerlichkeit, gerundet - Außenreagierend bis geteilt, gegliedert, zergliedert
- Einheit - Zweiheit/Vielheit
- Sphärisch - Strahlig, radial
Unser Fühlen wägt zwischen Luzifers und Ahrimans Wollen, zwischen Oben & Unten, Hoch & Niedrig, Gut & Böse - eine Welle entsteht aus wechselndem "konvex~konkav". Himmelhoch jauchzend - zu Tode betrübt.
Hier herrscht deutlich Differenzierung. Zwar soll gelten: "Wie oben, so unten", eine Entsprechung findet sich aber per Umkehrung: Was oben sich von innen nach außen wölbt, spricht unten von außen nach innen.
Vorne - Hinten als Gesicht - Rücken:
- Physiognomisch - Organisch
- Fassade - Hinterhof
- Präsentieren - Verbergen
- Schein - Sein
- Schönheit - Unschönheit?
- Offen - Geschlossen
- Weich - Hart
- Beweglich, Dynamisch - Fest, Statisch
Luzifers Fühlen lockt unser Wollen sympathisch hervor, Ahrimans Fühlen lässt uns antipathisch zurückweichen.
Hinter uns liegt Vergangenheit - unsere Vorstellung bildet sie ab.
Unser Wille führt nach vorn - zum Schönen?!
Auch hier erkennt man deutliche Differenzierung, jedoch ganz anders als im Oben - Unten.
(Nicht Konvex - Konkav! Diesbezüglich herrscht Wechsel: Ferse/Kniekehle/Gesäß/Kreuz/Schulterrücken/Atlas/Hinterkopf)
Links - Rechts:
- Warm - Kalt
- Lauschend fühlend - Energisch tätig
- Wohnbauten - Zweckbauten (Hierzu ist interessant die Verteilung der Funktionen in der Gesamtanlage der Goetheanumbauten)
Unser Denken scheidet in wahr oder falsch, Recht vom Unrecht?
Hier herrscht gesamtgestaltlich Symmetrie, zwar eine lebendige. Des Menschen Gestalt zeigt klar eine Achse, zwar ist der lebendige Mensch immer bewegt, eine starre Gleichheit zweier Hälften gibt es nicht. Und innen und unten im Funktionalen herrscht teilweise wirkliche Asymmetrie:
- Gliedmaßen: Standbein - Spielbein, Bogenarm - Spielarm (Geige)
- Auge: Schauend - Blickend
- Lunge: links schweben zwei Flügel - rechts stehen drei, drum fällt jeder Fremdkörper rechts hinunter
- Verdauung, Magen/Leber/Darm: alles asymmetrisch...
Asymmetrische Formen findet man sinnvoll z.B. beim einseitigen Anbau (Rudolf Steiner Halde), bei einseitig angeschlagenen Türen, aber auch bei einzelnen Schuhsohlen oder seitlich gebundenen Mappen empfohlen: Siehe oben in "Stil-Kriterien der "Dresdner Gruppe"" die Nummern 5 ff.
"Der Bau wird Mensch", also Du und Ich, wenn klar seine drei Achsen sind, das ist Bedingung.
Identifikation wird möglich durch Projektion des ganzen Menschen - Womit?
Betrachten wir des Menschen Leib, so finden wir in jedem Teil den ganzen Mensch: das zeigen auch Fußreflexzonen, Irisdiagnose, Ohrakkupunktur...
Interessant sind in diesem Sinn des Goetheanum Gesamtanlage und jedes Gebäude. Jedes Portal, jede Tür, jedes Möbel kann die Ganzheit sein, Gegenüber werden.
Die qualitative Differenzierung nach den Raumesrichtungen ist nun nichts Neues in der Baugeschichte.
Über die Bedingung hinaus kommt noch etwas dazu:
- Unterschiedene Qualitäten von Oben versus Unten findet man mit Gesims & Sockel, mit irdischem Souterrain & "himmlischer" Dachkuppel in vielen historischen Gebäuden. Neu bei Steiners Architektur ist der lebendige Fluss und die dynamische Spannkraft, mit der die beiden Qualitäten verbunden sind - das additive Übereinander ist überwunden.
- Vorne versus Hinten ist mit repräsentativen Fassaden vor unaufwendigen Rückseiten ebenfalls historisch bekannt. Neu bei allen Bauten Steiners ist die enorme Spannweite, mit welcher die beiden Qualitäten sich halten - z.B. des zweiten Goetheanums dynamische Front findet sich gehalten durch die quadratischen Mittelfenster (in ihnen scheint das Hinten durch), sein kubisches Hinten wird aushaltbar mit der oberen Anbindung per Gesims an die Dynamik sowie mit den aufgelösten Fenstern (hier erscheint, was vorne herrscht).
Die "Anwesenheit des je Polaren" ist ein Charakteristikum organischer Metamorphosen, die Ausgewogenheit darin ein solches der Menschlichkeit, siehe oben in "Stil-Kriterien der "Dresdner Gruppe" die Nummern 10.
- Links versus Rechts - da ist mir aus der Baugschichte keine typische Differenzierung bekannt, im Gegenteil herrscht häufig eine starre, alles bestimmende Symmetrie. Als neu bei Steiners Baukunst erlebe ich die Individualisierung der Symmetrie: Jedes Gebäude einzeln hat klar seine eigene, ist niemals in die Achse eines anderen gepresst - gebauter Indivdualismus. Aber auch nicht eines steht stumpf neben dem anderen, alle finden sich in deutlich gesprächlichem Bezug zueinander - gebaute Sozialität! (Sie stehen mehr oder weniger in astrologisch günstigen Winkeln, nie in Konjunktion, Opposiotion oder im Quadrat.)
Differenzierung und Gliederung hängt immer auch von absoluter Größe ab: gäbe es z.B. eine großes Hotel aus Steiners Feder, könnte man vielleicht an einem gewiss symmetrischen Hauptbau zwei unterschiedliche Flügel erwarten? Ein rechter aktiv ausgreifend, ein linker wägend - je mit entsprechender Funktionsverteilung im Inneren?
Was ist Motiv dafür, dass der Bau Mensch werde?
- Dienstleistung - weil eine Waldorfinitiativgruppe anthroposophische Baukunst wünscht, kann man sie schaffen wollen. Antwort auf einen Bedarf - ein wirtschaftliches Motiv.
- Integration - weil eine Baulücke solche Baukunst verlangt oder einfach, weil ein räumliches oder soziales Umfeld sie bedingt, kann man sie schaffen wollen. Ein soziales Motiv. (Siehe auch Steiners Worte vom 23.Jan 1914 dazu.)
Viele gute Gründe sind möglich - Rudolf Steiner nennt häufig pädagogische, z.B. in GA 302, auch in GA 304. Die sind oft auch volkspädagogisch oder kulturtherapeutisch zu verstehen, sei es bezogen auf die mitteleuropäische Gesellschaft um 1920 oder sogar auf die ganze Menschheitsentwicklung.
In "Stil-Kriterien der "Dresdner Gruppe"", Nummer 1 benannte ich eines, das sei hier wiederholt:
Rudolf Steiner, Dornach, 11. November 1923: “Der Mensch als Zusammenklang des schaffenden, bildenden und gestaltenden Weltenwortes” – zwölfter Vortrag, (GA 230):
“...Und so müßte eigentlich, ich möchte sagen, gehofft werden, daß alles das, was an Menschenunverstand und Menschenhaß durch die Menschen, wenn sie durch die Pforte des Todes gehen, hinaufgetragen wird in die geistige Welt, daß das auch wiederum dem Menschen mitgegeben wird, das heißt, daß daraus, es veredelnd, Menschengestalten geschaffen werden.
Nun hat sich aber im Laufe von langen Jahrhunderten für die gegenwärtige Entwickelung der Erdenmenschheit etwas sehr Sonderbares ergeben. Es konnten in der geistigen Welt nicht alle Menschenunverständnis- und Menschenhasseskräfte für neue Menschenbildungen, für neue Menschengestalten aufgebraucht werden. Es blieb ein Rest...”
Das verstehe ich direkt als Aufforderung, menschliche Gestalt zu geben einem jeden Ding, sei es eine Wiege, ein Bauernhof oder auch ein Vortrag.
Ich meine, dass es darum geht: zu gestalten in menschlichem Maß – weil damit direkt Frieden geschaffen wird!
Label, Zertifizierung, Siegel?
- (PZ, SN, 9/2017 nach dem 5.Werkstattgespräch zum 2. Goetheanum mit Piet Sieperda.)
Piet Sieperda - Kunsthistoriker, Kunstbetrachter - möchte eine Zertifizierung.
Der Wunsch ist verständlich, denn:
Heute gibt es soziale und wirtschaftliche Motive für solches Design. Diese verlangen eine deutliche Benennbarkeit von Qualitäten auch für Laien.
- Dienstleistung - weil eine Waldorfinitiativgruppe anthroposophische Baukunst wünscht, kann man sie schaffen wollen. Antwort auf einen Bedarf - ein wirtschaftliches Motiv.
- Integration - weil eine Baulücke solche Baukunst verlangt oder einfach, weil ein räumliches oder soziales Umfeld sie bedingt, kann man sie schaffen wollen. Ein soziales Motiv. (Siehe auch Steiners Worte vom 23.Jan 1914 dazu.)
- Persönliche Kenntnis, Bewußtseinsbildung, Empfindungsschulung und Urteilsfähigkeit in Sachen Gestaltung sind wünschenswert, aber nicht von jedem zu leisten. Jede Waldorfinitiativgruppe z.B. mit dem Wunsch nach Gestaltung im Sinne Rudolf Steiners soll diesen realisieren lassen können - auch ohne, dass sie gezwungen ist, Fachfrauschaft auszubilden.
- Persönliche Verbundenheit mit einem Bauernhof ist sehr zu begrüßen, in jeder Form zu fördern. Manche Menschen leben fern von solchen Möglichkeiten in Städten - ihnen bieten die verschiedenen Label eine bewußte Wahl der von ihnen gewünschten Qualitäten.
- Alle Eltern sind Erzieher - mehr oder weniger gute. Und suchen dann für ihre Kinder eine geeignete Schule. Da ist es gut, dass die verschiedenen Ansätze Namen haben, beschreibbare Qualitäten. Jeder weiß, dass die Persönlichkeit des Lehrers entscheidend ist und will doch Art und Richtung der ganzen Schule wählen können.
- Eigene Urteilsfähigkeit in Sachen Gesundheit und Krankheit ist lobenswert, viele fühlen sich jedoch sehr unsicher. Da bieten Zertifikate und Labels Möglichkeiten zur Orientierung.
Jedermensch weiß, dass kein Zertifikat oder Label Fehlerfreiheit garantiert. Niemand wird den Aspekt des persönliches Vertrauens zum Arzt, Lehrer, Marktverkäufer oder Gestalter seiner Wahl gering schätzen.
Vor dem Wunsch nach einem Label steht der nach deutlich beschreibbaren Qualitäten. Dazu macht eine Begriffsunklarheit Schwierigkeiten: "Organische Architektur" wird V-i-e-l-e-s von V-i-e-l-e-n genannt.
Nach den obigen Betrachtungen scheint klar, dass das Spezifische von Steiners Gestaltung z.B. im dynamischen Gleichgewicht liegt, das Goethanum ist weder "freie Bewegtheit" noch "Bauhausfabrik" sondern zeigt beider Qualitäten in größtmöglicher Spannweite sinnvoll verbunden, dies als Beispiel.
Es gibt großartige lebendig und dynamisch anmutende organische Architektur überall auf der Welt, ganz unabhängig von der anthroposophischen Bewegung und Gesellschaft. Weder letzteren beiden noch dem Bauimpuls Rudolf Steiners tut es gut, dessen Spezifika unbestimmt zu lassen.
- Wird Bevormundung befürchtet? Welcher echte Künstler wird sich dreinreden lassen! Und intern? - laut den Statuten gilt ja: „Mitglied kann jedermann ohne Unterschied der Nation, des Standes, der Religion, der wissenschaftlichen oder künstlerischen Überzeugung werden,…“.
- Ist es Angst vor Dogmatismusvorwürfen, davor, nicht mitreden zu können, welche alles lieber im Unklaren lässt? Ein sinnvolles Gespräch wird erst interessant und möglich durch eine deutlich Positionierung! Ist eine solche nur antipathisch und dogmatisch denkbar?
- Müsste ein Architekt ohne Zertifikat um Aufträge bangen? Kaum, das widerspricht meinen Erfahrungen aus anderen Bereichen: Ein Imker ohne Demeterzertifikat wird seinen Honig allemal los, ein guter Lehrer findet problemlos eine gute Stelle, ein echter Künstler immer sein Publikum (sei es auch post mortem;-)).
Aus einem anderen Bereich:
Ein "Anthroposophischer Arzt" nach IPMT und/oder GAÄD ist frei, anthroposophische, homöopathische und allopathische Medikamente u.a. zu verschreiben. Dem ausgesprochenen Wunsch nach anthroposophischer Medikation kann er folgen oder nicht, dies je begründen, auf Fragen antworten.
Entsprechend ließen sich der Wunsch und die Frage nach "Rudolf-Steiner-Design" händeln mit einem Label. Ein solches soll keine Handlungsanweisung sein und wird keine Garantie für "gute" Gestaltung, aber es würde die Möglichkeit eröffnen, das Thema zu besprechen: Wünsche zu äußern, Vorschläge zu hinterfragen, Zweifel und Zustimmung zu formulieren, Abweichungen zu begründen. Das ist eine Frage von Verkörperung und Realität - daran mangelt es bis heute.

- (PZ, SN, 5/2018)
Eine solche gibt es gewiss, berühmt ist das ganze Türschloss im Glashaus!
Davon heißt es, dass ein unmoralischer Mensch sie nicht betätigen könne. Dass ihre Betätigung Moralität lehre. Was heißt das? Man kann es ganz praktisch verstehen: mit dieser Klinke kann niemand "ins Haus" fallen. Erst ziehen, dann schieben - bevor der Wille zum Eintritt Platz bekommt, fordert die Klinke ein tatsächliches Sichzurücknehmen, eine Gegenbewegung - ein spezifisches Gleichgewichtsmoment der Menschlichkeit. Eine ähnliche Gebärde wird mit der gewöhnlichen Höflichkeit praktiziert: "Entschuldigung, können Sie mir bitte sagen, wie spät es ist?" - das "Entschuldigung" vorweg macht den Überfall verträglich.

Insofern kann man sich fragen, warum es nicht in jedem Baumarkt und Beschlagskatalog Klinken solcher Gebärde gibt - in jeder erdenklichen Ausführung, von Messing poliert bis zum farbigen Plasterohr.
Ein Anderes ist die Gestalt des einzigen Beispiels am eigenen Platz - diese erklärt sich aus dem Kontext und passt sicher nicht an jede beliebige Stelle.